Ein unmoralisches Angebot
zu Boden gefallenen Seidenschal auf, mit dem sie ihr Dekolleté verhüllt hatte. Der Sinn eines Fichus sei es, den Anstand einer Frau zu wahren, hatte ihre Mama ihr Jahre zuvor gesagt. Nun, das musste sie jetzt nicht mehr tun. Ihr Benehmen hatte das deutlich gezeigt! Schlimmer noch, die sich in ihr wieder regenden Empfindungen erinnerten sie daran, wie sehr sie es genossen hatte, sich zügellos zu benehmen, und wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, von Lord Renshaw geküsst und berührt zu werden. Wie war es möglich, jemanden zu verabscheuen und sich gleichzeitig zu ihm hingezogen zu fühlen? Der Gedanke erfüllte sie mit Verzweiflung.
Mit einem Ruck entzog sie dem Viscount ihre Hand und ging hoch erhobenen Hauptes zu ihrem Zimmer. Die beabsichtigte Wirkung wurde jedoch durch die Erkenntnis ruiniert, dass Lord Renshaw die Wirkung ihres tief ausgeschnittenen Kleides aufgefallen war. Ihr sank das Herz, als er ihr ins Zimmer folgte. Alles, was sie jetzt wollte, war, sich ungestört von ihrer Erniedrigung erholen zu können.
„Bitte, lassen Sie mich allein, Sir!“ Sie wusste, es war ihr nicht gelungen, den eisigen Ton anzuschlagen, den sie beabsichtigt hatte. Sie war kaum imstande, die Augen auf den Viscount zu richten.
„Einen Moment noch.“ Sein brennender Blick schweifte über ihre in Unordnung geratene Frisur, ihre Schultern und ihren Brustansatz. „Sie sind gut! Das muss ich Ihnen lassen! Genügend reizvolle Unschuld, gemischt mit Leidenschaft!“ Er lachte ironisch. „Gut genug, um mich Zweifel haben zu lassen. Gleichviel, ich bin hergekommen, um Ihnen ein Angebot zu machen. Nach Ihrem Betragen soeben werden Sie es vielleicht wohlwollend in Betracht ziehen. Ich möchte Ihnen die Mühe ersparen, sich in Blanchland nach einem Beschützer umsehen zu müssen. Ich bin reich genug, um mir jeden Wunsch erfüllen zu können, und sicher, dass ich auch Ihre Wünsche befriedigen kann! Was meinen Sie dazu?“
Das Blut wich Sarah aus den Wangen. Das war der Gipfel der Beleidigungen! Doch sie hatte Lord Renshaws Unterstellungen widersprochen, nur um ihm gleich darauf in die Arme zu sinken, sodass er sie für erfahren halten musste. War das Angebot, seine Mätresse zu werden, die natürliche Folge? Sie nahm das an. Konnte sie es Seiner Lordschaft verargen, dass er so von ihr dachte? Vielleicht nicht, und dennoch hoffte sie, er möge sie besser kennen. Sie hatte Träume gehegt, die weit von dieser grässlichen Wirklichkeit entfernt waren. Sie konnte kaum fassen, dass alles Gute und Reine und Schöne zwischen ihnen beiden in den Schmutz getreten worden war.
„Verlassen Sie mein Zimmer!“
Die Miene des Viscounts wurde einen Moment lang ausdruckslos. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und warf die Tür so laut hinter sich zu, dass der Knall durch das ganze Haus dröhnte.
Nach der so gut wie schlaflosen Nacht stand Sarah früh auf. Nachdem sie nachts Amelia unter Tränen berichtet hatte, was zwischen ihr und Lord Renshaw geschehen war, hatte die Cousine eine halbe Stunde lang vergebens versucht, sie davon abzubringen, nach Blanchland zu reisen. Je länger sie über ihre Absicht nachgegrübelt hatte, desto stärker war ihre Entschlossenheit geworden, den Besuch zu machen. Gequält hatte sie sich eingestanden, wie sehr sie Lord Renshaw mochte, sich indes entschieden, ihn zu vergessen.
Schweren Herzens schleppte sie die Taschen zur Schlafzimmertür. Wenn sie Glück hatte, konnte sie Amelia, die nach einem Ball immer sehr spät aufstand, aus dem Weg gehen. Eine weitere Szene würde sie nicht ertragen.
Sie ging in den Flur und zum Treppenpodest, bewusst den Blick nicht auf die Stelle richtend, wo sie in der vergangenen Nacht dem Viscount begegnet war.
Das Haus war weit davon entfernt, still zu sein. Der Lärm kam ihr ungeheuer laut vor. Fensterläden wurden geöffnet, und Diener rannten emsig herum. Sie stieg die Treppe hinunter und sah zwei säuberlich mit roten Stricken verschnürte Koffer neben der Haustür stehen. Chisholm sah verstörter aus, als Sarah ihn je erlebt hatte, während er eine endlos scheinende Fülle von Anweisungen seiner Herrin entgegennahm. Ungläubig starrte Sarah die Cousine an.
Amelia trug ein kaffeebraunes Reisekleid mit dazu passendem Hut. Sie drehte sich um und sah Sarah sie erstaunt von der Treppe her beobachten.
„Ah, da bist du ja, Sarah! Endlich! Beeile dich und frühstücke! Oh, Chisholm, noch etwas. Falls Sir Greville Baynham herkommt, richten Sie ihm bitte aus, dass ich verreist
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