Ein unsittliches Angebot (German Edition)
konnte.
Er hatte sie nur mit einem knappen Nicken zur Kenntnis genommen, bevor er in seine Bank geglitten war. Seine Miene hatte keinerlei unangemessene Erinnerung oder Vorstellung verraten; dennoch hatte sie die Augen sofort niedergeschlagen und gespürt, wie ihr Gesicht heiß geworden war. Den ganzen Gottesdienst hindurch hatte jede seiner Bewegungen sie abgelenkt, sich wie eine warme Hand an ihrer Wange ihrer Aufmerksamkeit aufgedrängt. In vielerlei Hinsicht war sie recht lästig, diese ganze Angelegenheit. Und dennoch tat es ihr nicht leid.
Es tat ihr gewiss nicht leid. Aber es machte sie vielleicht etwas melancholisch, nachdem eine weitere Nacht auf ähnliche Weise vergangen war und ein weiterer Tag im Kalender abgestrichen. Das sollte ja ein Symptom sein. Unerklärliche plötzliche Sentimentalität. Sie nahm die Möglichkeit zur Kenntnis und ignorierte sie.
Die Stimmung hielt jedoch an und trieb Martha am Nachmittag auf einen langen Spaziergang in alle Ecken des Guts. Bergauf, bergab, die längste Hecke entlang, vorbei an Bauernkaten und endlich ans Ufer eines Baches, wo sie sich hinsetzte und Zweige vom Boden aufhob, um sie in die Fluten zu werfen. Einige trieben davon, und sie stellte sich vor, wie sie bis dorthin schwammen, wo der Bach in den Fluss mündete, und von dort aus den langen Weg bis zum Meer. Viele blieben jedoch an Steinen hängen oder liefen in den Untiefen auf Grund, sodass ihre Reise ein schmachvolles verfrühtes Ende nahm.
Dinge gingen eben zu Ende. Manchmal früher, als einem lieb war. Mr Russell musste im Laufe seines Lebens zahllose Male über sein Land gegangen sein und sich vorgestellt haben, wie es in direkter Linie weitergegeben werden würde. Ohne sich je träumen zu lassen, dass eine böse Intrige ihn zu früh von der Bühne holen und sein geschätztes Gut in die Hände eines verwerflichen Bruders oder einer treulosen Witwe fallen lassen würde.
Ich habe mich einem Mann hingegeben, wie ich mich dir, meinem Ehemann, niemals hingegeben habe. Die Worte drängten sich auf und verlangten, laut ausgesprochen zu werden; für wessen Ohr war kaum zu sagen. Sie war nicht reumütig. Wenn es Verrat an dem Toten war, sich Mr Mirkwood hinzugeben, dann würde sie diese Sünde wieder begehen, bei jeder Gelegenheit, die ihr noch blieb.
Dennoch warf sie den letzten Zweig ins Wasser und stand auf, klopfte sich die Röcke ab und wandte sich in Richtung des Friedhofs, auf dem Generationen von Russells aufgereiht lagen. Mr Russell lag neben seiner ersten Frau, ein Stück vom Eisenzaun entfernt. Kurze, grüne Schösslinge überzogen den Boden über ihm wie das unrasierte Kinn eines Mannes. Wenn ihr Kind geboren wurde – falls sie denn mit einem gesegnet war –, würde sein Grab aussehen wie all die anderen.
Er hatte sich einen Sohn gewünscht. Er hatte die Untaten seines Bruders nicht hingenommen, als so viele nur die Schultern gezuckt hatten, und er hatte versucht, Mr James Russell am Erben zu hindern.
Sie kniete vor dem Grabstein nieder und fuhr mit dem Finger die Linien entlang, die sein Leben einrahmten. Das Kind wird nicht dein Blut haben. Stumm formte sie die Worte. Vielleicht nicht einmal meins. Aber es wird als Russell aufwachsen, und es wird deine Linie ehren. Sonderbar, wenn man es sich überlegte. Selbst eine lieblose, kaum erwähnenswerte Ehe konnte etwas Würdiges hervorbringen. Mr Russell hatte sie in der Hoffnung auf einen Erben geheiratet, und sie würde dafür sorgen, dass er einen bekam.
»Ich habe mich schon gefragt, wann ich Sie hier finden würde.« Da stand Mr Atkins, der soeben mit einer Heckenschere durchs Tor getreten war. Die Nachmittagssonne fiel hell auf ihn und ließ seinen Umriss und seine Züge in besonderem Glanz erstrahlen. So, als wäre er ein Engel, der auf Erden unter den Toten arbeiten musste.
Martha hockte sich hin. »Ich bin nachlässig gewesen.« Sie klopfte sich die behandschuhten Hände ab.
»Das wollte ich damit nicht andeuten. Vergeben Sie mir meine Wortwahl.« Seine Füße kamen näher, bis nur noch eine Grabreihe sie trennte. Sie hörte, wie er zögerte, dann umkehrte und sich dem Grab eines Rodney Russell zuwandte, vor dem er sich hinkniete und ein wenig Unkraut abschnitt.
Ihr Blick auf ihn wurde zum Teil durch den nächsten Grabstein versperrt, auf dem – wie auch eines Tages auf dem ihren – der Name Mrs Richard Russell eingraviert war. Geliebte Ehefrau stand auch darauf. Diese Worte würden bei ihr vielleicht weggelassen werden. »War seine
Weitere Kostenlose Bücher