Ein unverschaemt charmanter Getleman
Kutschen stark frequentierten Straße ausgesetzt war.
Als sie an diesem Morgen das Dorf erreichten, lag die Parade noch still und verlassen da. Mittlerweile machte auch die Sonne den einen oder anderen Vorstoß zwischen den Wolken hervor, und ihre kräftigen Strahlen funkelten auf dem Fluss und schienen hell auf die geweißten Häuser, die sich an den Hang schmiegten.
Obwohl Mirabel das Dorf fast ebenso vertraut war wie ihr Zuhause, wurde sie seines Charmes doch nie müde.
Auf der einen Seite erhoben sich steil die Berge vom Derwent River, die in dem alles überragenden Kalksteinmassiv des High Tor gipfelten. Die Felsen thronten dort oben wie eine von einem Wall umgebene Burg, an deren Fuß grünes Laubwerk den grauen Stein überwucherte.
Der kleine Kurort war hübsch und adrett. Entlang der Museum Parade reihten sich Pensionen, Läden und Museen dicht aneinander, und zwischen den Bäumen auf den umliegenden Hängen schauten einzelne Villen hervor. Auf der anderen Straßenseite erstreckten sich Grünanlagen bis hinunter zum Fluss, der am Fuße des Bergs vorbei in Richtung der Heights of Abraham verlief.
Es war recht einfach, auf die Heights hinaufzusteigen, und Mirabel hatte die Wanderung schon zu jeder Jahreszeit gemacht. Wann immer ihre Sorgen sie zu überwältigen drohten, wanderte sie dort hinauf und fand stets Trost in der Natur.
Heute gingen ihr sehr viele Dinge durch den Kopf, und ihre Gemütsverfassung war alles andere als ausgeglichen. Aber sie hatte keine Zeit, sich von der Natur trösten zu lassen.
Nachdem sie ihr Gespann dem Stallburschen überlassen und ihre Zofe Lucy losgeschickt hatte, ein paar Besorgungen zu machen, betrat sie Wilkerson’s Hotel und erkundigte sich nach Mr. Carsington.
Mr. Wilkerson eilte ihr entgegen. „Ich glaube, er ruht noch, Miss Oldridge“, teilte er ihr mit.
„Ruht noch?“, wiederholte sie ungläubig. „Aber es ist bald Mittag.“
„Gerade halb zwölf vorbei, Miss“, bestätigte der Wirt.
Dann fiel es ihr wieder ein: Angehörige der vornehmen Gesellschaft erhoben sich nur selten vor Mittag, was zumeist daran lag, dass sie erst zu Bett gingen, wenn der Morgen bereits graute.
Mr. Wilkerson erbot sich, einen Diener nach oben zu schicken, um nachzufragen, ob Mr. Carsington bereit sei, Besuch zu empfangen.
In Mirabels Vorstellung nahm ein Bild von Mr. Carsington Gestalt an, der sich sein zerzaustes, golden schimmerndes braunes Haar aus der Stirn strich und schlaftrunken blinzelnd aufsah zu ... jemandem.
„Nein, es ist nicht nötig, dass Sie seine Bettruhe stören“, erwiderte sie rasch. „Ich habe ohnehin einige Besuche zu machen und werde noch ein paar Stunden im Dorf sein. Ich suche ihn etwas später am Tag erneut auf.“
Sie merkte, wie ihre Hände zitterten. Das musste der Hunger sein. Heute Morgen war sie so voller Sorge gewesen, Lord Hargates Sohn würde zerschmettert am Wegesrand liegen, dass sie zum Frühstück nur einen Schluck Tee und einen Bissen Toast herunterbekommen hatte. „Aber vorher hätte ich gerne eine Kanne Tee“, fügte sie daher hinzu, „und etwas Toast.“ Umgehend wurde sie in ein privates Speisezimmer geführt, das fernab des öffentlichen Schankraumes lag, und binnen Minuten standen Tee und Toast vor ihr auf dem Tisch.
Nachdem sie den Teller und auch die Kanne geleert hatte, belebten sich Mirabels Lebensgeister. Als Mr. Wilkerson hereinkam und sich erkundigte, ob sie noch etwas wünsche -vielleicht ein paar Eier und einige Scheiben gebratenen Speck -, bat sie ihn um die detaillierteste Landkarte, die er von der Gegend habe.
Solche Karten habe er einige, versicherte er ihr, ein Sortiment, das es mit jedem Laden in London aufnehmen könne, und ein paar sehr hübsche von Hand kolorierte seien auch dabei. Er wünschte nur, dass die Derbyshire-Karte von Ordnance Survey schon verfügbar sei, aber dem war leider nicht so. „Sehr bedauerlich, Miss Oldridge“, bemerkte er. „Sehr wissenschaftlich aufgemacht, diese neuen Karten.“
Sie bat darum, sich jene ansehen zu dürfen, die er vorrätig habe, und er brachte sie ihr. Einige davon waren recht detailreich und schienen ihr für ihren Zweck geeignet. Um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen, breitete Mirabel sie vor sich auf dem Tisch aus. Eine ausführlichere Betrachtung würde warten müssen, bis sie wieder zu Hause war.
Doch Mirabel war ihrem Vater in vielerlei Hinsicht ähnlicher, als ihr bewusst war. Ganz sich selbst überlassen - ohne Ablenkungen oder Hilferufe seitens
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