Ein unverschaemt charmanter Getleman
durchleiden müssen, und daher wusste er, wie belanglos seine eigenen Leiden im Vergleich dazu waren.
Er sollte sich wahrlich glücklich schätzen, sich auf eine vernünftige und robuste Frau vom Lande stützen zu können, die nicht sogleich in Tränen ausbrach oder in Panik geriet, sondern ebenso ruhigen und kühlen Kopfes war, wie jeder seiner Waffenbrüder es gewesen wäre.
Gemeinsam mit ihr watete - oder besser gesagt: wankte - er zu einer Stelle am Ufer, wo ein Kiesbett recht sicheren Grund bot, und kletterte aus dem Bach.
Von da an fiel ihm das Laufen ein wenig leichter. Noch immer war der Boden nass und schlüpfrig, und nun mussten sie zudem nicht mehr steil bergauf steigen, sondern ebenso steil bergab, aber sie stützten sich gegenseitig und kamen so recht gut voran. Als sie schließlich wieder den Aussichtspunkt erreicht hatten, von dem aus sie zu Fuß aufgebrochen waren, trafen sie auf einen zutiefst besorgten Jock, der sich gerade nach ihnen auf die Suche hatte machen wollen.
Mirabel war recht geübt darin, den Eindruck zu erwecken, sie habe alles im Griff. In geschäftlichen Belangen war es unabdingbar, dass man nach außen hin gelassen blieb, selbst dann, wenn der späte Frost die Obstblüte ruiniert hatte oder eine lang andauernde Regenperiode die Hälfte des Winterheus hatte verrotten lassen oder wenn alle Schafe plötzlich der Reihe nach von einem rätselhaften Leiden dahingerafft wurden.
Sie war, wie Captain Hughes sagen würde, der Kapitän, und Wohlergehen von Schiff und Mannschaft lagen in ihrer Verantwortung. Jedes Anzeichen der Verunsicherung, des Zögerns, des Zweifels oder der Furcht würde sich flugs auf alle anderen übertragen, die allgemeine Moral untergraben und das Schiff samt Besatzung in Gefahr bringen.
Weil ihr Vater sich von seinem Kommandoposten zurückgezogen hatte, hatte Mirabel das Ruder an sich gerissen und die Geschäfte ihres Vaters übernommen, um zu verhindern, dass das Anwesen geradewegs auf die Klippen zutrieb und die Existenz all der Menschen in Gefahr geriet, die von ihr abhängig waren.
Nach nunmehr über einem Jahrzehnt, in dem Mirabel die Verantwortung ihres Vaters getragen hatte, war es ihr zur zweiten Natur geworden, jede Situation entschlossen anzugehen und unter ihre Kontrolle zu bringen - auch dann, wenn ihr alles noch so ausweglos erscheinen oder ihr selbst zutiefst verängstigt zumute sein mochte.
Von dem Augenblick an, da Mr. Carsington in den Briar Brook gestürzt war, glaubte Mirabel sich einem hysterischen Anfall so nah, wie sie es noch nie in ihrem Leben gewesen war.
Als sie hinunter zum Bach kletterte, pochte ihr das Herz laut donnernd in den Ohren. Der strömende Regen ließ ihr alles vor Augen verschwimmen, sodass sie nicht einmal erkennen konnte, ob seine Brust sich hob und senkte oder nicht. Die Hände zitterten ihr so sehr, dass sie kaum zu sagen vermochte, ob sein Puls noch schlug.
Zum Glück hatte er dann die Augen aufgeschlagen und sie nach einem kurzen Moment der Verwirrung auch erkannt, was Mirabel immerhin so weit beruhigt hatte, dass sie wieder einen Gedanken fassen konnte - wenngleich keinen ganz so klaren Gedanken, wie ihr lieb gewesen wäre.
Während des Rückwegs nach Oldridge Hall konnte sie jedoch wieder in Ruhe nachdenken. Und kaum, dass eine ganze Schar Bediensteter aus dem Haus strömte, Mr. Carsington vom Pferd herunterhalf und ihn auf eine Leiter bahrte, war sie zu dem Schluss gelangt, dass er keineswegs nur an einem verstauchten Knöchel litt.
Er wehrte sich zunächst dagegen, getragen zu werden, fing dann jedoch wieder wirr zu murmeln an und schien sich seiner Umgebung gar nicht mehr bewusst zu sein. Im Haus wiederholte sich dieses Verhalten, derweil die Diener ihn durch die Eingangshalle und die Treppe hinauf in die gelbe Gästesuite trugen.
Einfacher wäre es gewesen, ihn in einem Zimmer im Erdgeschoss unterzubringen, aber selbst mit einem verstauchten Knöchel ließ es sich aus einem ebenerdig gelegenen Zimmer recht leicht entkommen. Mirabel zweifelte nicht daran, dass er versuchen würde zu fliehen. Immerhin hatte er keine Kleidung zum Wechseln dabei. Und wenn ein Eisregen ihn nicht aufhalten konnte, so würde es ein gestauchter Knöchel wohl auch nicht vermögen.
Sie wollte dafür sorgen, dass er sich wenigstens so lange nicht von der Stelle rührte, bis Dr. Woodfrey ihn untersucht hatte.
Mirabel ordnete an, dass Mr. Carsington von der Trage gehoben und in einen Sessel gesetzt werde, hatte ein Auge darauf, dass
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