Ein unverschaemt charmanter Getleman
verließen?
Wie rasch, fragte er sich, würden seine Lebensgeister dahinschwinden? Und wäre das wohl besser, als gerettet und notdürftig zusammengeflickt zu werden, um dann, verstümmelt und gebrechlich, eines langsamen Todes zu sterben, der Jahre währte anstatt nur Stunden?
Ganz in der Nähe donnerten die Gewehrsalven der Artillerie und erfüllten die Luft mit Rauch. Er hörte Männer, die vor Schmerzen schrien. Gewehrsalven. Noch mehr Rauch. Pferde, die mit donnernden Hufen auf ihn zupreschten.
Sie trampelten über ihn hinweg und ließen ihn in Bewusstlosigkeit versinken. Aber nur für kurze Zeit. Bald kam er wieder zu sich, roch den Gestank und den Rauch und hörte die qualvollen Schreie der Sterbenden - die der Männer ebenso wie die der Pferde.
Erneut wurde er sich auch seiner Schmerzen bewusst, die ihn ganz umfingen und ihn in eine andere Welt versetzten, sodass das Grauen um ihn herum seltsam fern und unwirklich schien.
Die Schmerzen waren so gewaltig, dass sie alles andere verblassen ließen. Zunächst spürte er nur ein gleichmäßiges Pochen, das klang wie sein Herzschlag. Danach kamen und gingen in rascher Folge verschiedene Variationen dieses Themas, die ihn mit Schmerzen und Krämpfen durchfuhren, jedoch vergleichsweise kleine Qualen darstellten im alles überwältigenden Tumult des gleichmäßigen Trommelschlags.
Die ganze Welt verdichtete sich auf diese eine menschliche Empfindung in all ihren Facetten und Spielarten. Alistair stellte fest, dass Schmerz wie eine Sinfonie war, wie ein Kaleidoskop - wie man es nannte, war gleichgültig, da außerhalb dessen nichts anderes mehr zu existieren schien.
„Mr. Carsington.“
Eine Nachtmusik inmitten der großen Sinfonie.
Etwas stimmte nicht.
Alistair öffnete die Augen. Blaue, oh so blaue Augen blickten in die seinen. Über den Augen leuchtete ein feuriger, lichter Strahlenkranz, auf dem ein alter Hut mit arg ramponiertem Aufputz saß. Jenseits des Hutes erstreckte sich weit der finstere Himmel und schüttete den Regen von vierzig Tagen und vierzig Nächten über ihnen aus.
„Sie sind bei Bewusstsein“, hörte er die samtweiche Stimme erleichtert sagen. „Können Sie sprechen? Können Sie mir sagen, wo Sie Schmerzen haben?“
„Nirgends“, erwiderte er. Überall. Sein Bein brannte wie Feuer. Hatte man auf ihn geschossen? Aber nein, das war Jahre her. Dies hier war die Gegenwart. Das Mädchen. Der Rotschopf. Ach ja, nun erinnerte er sich auch wieder: seidenweiches Haar von der Farbe des Sonnenaufgangs ... Augen so blau wie die Abenddämmerung ... eine wunderbar schlanke Taille, um die er seine Hände gelegt hatte. Wann mochte das gewesen sein? Und warum hatte er sie losgelassen?
„Ich weiß, dass Sie verletzt sind“, beharrte sie. „Sagen Sie mir, wo genau. Ich traue mich nicht, Sie anzufassen und Ihnen aufzuhelfen, bevor ich es nicht weiß. Aber ich muss Ihnen aufhelfen. Sie können nicht den ganzen Tag hier im Briar Brook liegen bleiben. Seien Sie bitte vernünftig - wo tut es weh?“
„Nirgends“, wiederholte er. „Alles in bester Ordnung.“ Er versuchte, seinen Kopf ein wenig zu heben, doch sogleich durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz von der Hüfte bis hinunter in seinen Knöchel. Ihm stockte der Atem. Es war nur einmal mehr sein böswilliges Bein, versuchte er, sich zu beruhigen. Nichts, worüber man in Panik geraten musste.
„Einen Moment“, keuchte er. „Bin gleich so weit.“ Diesmal gelang es ihm nicht nur, den Kopf zu heben, sondern auch seinen Arm um einen großen Stein zu legen. Doch sogleich ließ er den Kopf wieder sinken und auf dem Stein wie auf einem Kissen ruhen. Regentropfen prasselten auf ihn ein. Wo war sein Hut? Er musste seinen Hut finden. Gleich, noch eine Minute, dann wollte er aufstehen und nach seinem Hut suchen.
„Jock!“, rief sie. „Jock!“
Wer war Jock? Sicher nicht ihr Liebhaber. Hatte sie nicht gesagt, dass sie keinen habe? Das hätte er sie nicht fragen dürfen. Noch andere Dinge hatte er getan, die er nicht hätte tun sollen. Er erinnerte sich, auf ihre schwingenden Hüften geschaut und die Dreistigkeit besessen zu haben, Miss Oldridge zu sagen, wie sehr er ihre reizvolle Rückansicht bewundere. Wie konnte er nur? Aber sie waren allein gewesen. Kein kräftiger Stallbursche mit grimmiger Miene, der ihn davon abgehalten hätte. Jock. Der Stallbursche.
„Die Pferde“, stieß er hervor. „Er kann die Pferde nicht allein lassen.“
Erneut begannen die Rauchschwaden, ihn wie Nebel zu
Weitere Kostenlose Bücher