Ein unverschaemt charmanter Getleman
Morgenmantel trug er ein Hemd aus federleichtem Batist - samt formvollendet angelegter Halsbinde. Seine Beine wurden von einer weit geschnittenen Hose verhüllt. Seine Füße - seine bloßen Füße - steckten in türkischen Pantoffeln.
Mirabel sagte sich, dass es natürlich nur vernünftig war, keine Strümpfe anzuziehen. Wenngleich sein Knöchel kaum geschwollen war, so schmerzte er doch sicher. Sie sagte sich, dass sie besser darauf achten solle, dass der verletzte Fuß auch ordentlich bandagiert und hochgelegt war, wie der Doktor es verordnet hatte.
Aber sie wollte lieber gar nicht so genau hinsehen. Obwohl ihr Gast nun vollständiger bekleidet war als das letzte Mal, da sie ihn gesehen hatte - letzte Nacht, als sie besser nicht hier gewesen wäre -, so war er doch mehr ihren Blicken preisgegeben.
Unter der Bettdecke waren seine Beine nur vage zu erkennen gewesen. Doch der dünne Stoff seiner Hose schmiegte sich weich um die nun viel schärfer umrissenen Formen und weckte in ihr Erinnerungen an jene steinharten Muskeln, die sie gefühlt hatte, während sie ihn nach seinem Sturz untersuchte. Dabei war sie viel zu besorgt und damit beschäftigt gewesen, ihre aufsteigende Panik zu unterdrücken, als dass sie noch etwas anderes hätte empfinden können. Aber nun ...
Sie sah beiseite und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, als wolle sie sich vergewissern, dass alles in guter Ordnung sei.
Das war es nicht - zumindest in keiner ihr bekannten Ordnung. Die ganze Atmosphäre hatte sich verändert.
Gestärktes weißes Linnen und dunkle Wolle und Leder ... der Ankleidetisch überladen mit männlich anmutenden Toilettenartikeln ... eine Rasierschatulle ... der Duft von Palmseife und Stiefelpolitur ... und von ihm.
Das Zimmer strahlte nun etwas Männliches aus, war ganz von ihm beherrscht.
Sie spürte seinen Blick auf sich gerichtet und sammelte sich. „Sie scheinen sich besser zu fühlen, Mr. Carsington“, stellte sie schließlich fest. „Das freut mich.“
„Ich hatte Ihnen doch versichert, dass ich die Kunst der Bequemlichkeit meisterlich beherrsche“, meinte er.
Er beherrschte sie mehr als nur meisterlich. Er vermochte es, eine Atmosphäre um sich zu schaffen, die müßig und träge war, sinnlich und ... sündhaft.
Das war absurd. Ihre Fantasie war dabei, mit ihr durchzugehen. Mirabel hielt sich an, vernünftig zu sein, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Tablett, das der Diener in Händen hielt. Dr. Woodfrey hatte geraten, dem Patienten mehrmals am Tag leichte Mahlzeiten zu reichen, was nun gerade wieder an der Zeit war.
Sie sah zu, wie Crewe dem Diener das Tablett abnahm und die Speisen auf dem kleinen Tisch am Kamin anrichtete.
Als alles zu seiner Zufriedenheit war, zog der Kammerdiener einen weiteren Sessel heran, damit Mirabel sich setzen konnte. Sie nahm Platz und wünschte, sie wäre genauso selbstbeherrscht, wie ihr Gast es zu sein schien.
Crewe zog sich diskret in einen entlegenen Winkel des Zimmers zurück.
„Sie sehen heute aus wie ein Herrscher aus dem Morgenland“, bemerkte sie Mr. Carsington gegenüber.
„Ich habe an sich keine besondere Vorliebe für diese Hose“, erwiderte er, „wirkt sie doch ein wenig exzentrisch, und ich weiß beim besten Willen nicht mehr, was in mich gefahren war, als ich sie kaufte. Aber Crewe wollte mir nicht erlauben, Reithosen oder Pantalons zu tragen, da sie so eng geschnitten sind. Er fürchtete wohl, mein Knöchel würde vollends zerquetscht werden, wenn ich sie anzöge.“
Allzu lebhaft erinnerte sie sich daran, wie seine langen, muskulösen Beine gestern unter der Bettdecke hervorgeragt hatten. Der Mund wurde ihr trocken, sie schluckte und faltete die Hände im Schoß. „Crewe ist sehr vernünftig“, fand sie.
„Leider wurden mir auch keine Strümpfe erlaubt - aus genau demselben Grund -, und es ist wahrscheinlich sehr unschicklich, dass Sie meine bloßen Knöchel sehen, Miss Oldridge.“
Sie hatte unlängst mehr gesehen, als ihrem Seelenfrieden zuträglich war - als er während seines Albtraums auffuhr und sein Nachthemd am Ausschnitt auseinanderklaffte und den Blick freigab auf seinen muskulösen, golden schimmernden Oberkörper ...
Leichthin bemerkte sie: „Was alle Welt doch für ein Aufhebens um den gewahrten Anstand macht. Aber seien Sie unbesorgt, meine einstige Gouvernante ist gekommen, um meinen Ruf zu retten, und daher müssen Sie nicht mehr fürchten, dass der Anblick Ihrer bloßen Knöchel meine Moral untergraben
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