Ein unversoehnliches Herz
Hunderte ausländischer Hochschullehrer wurden eingeladen, vor allem aus Deutschland, Schweden und Finnland. Die Studentenzahlen stiegen stetig und lagen schon bald bei dreitausend Personen beiderlei Geschlechts, größtenteils Esten, aber auch Deutsche, Russen, Letten und Schweden. Hinzu kamen außerdem fünfhundert Zuhörer, die kein Abitur hatten, aber dafür bezahlen konnten, öffentliche Vorlesungen zu besuchen. Es war vorgesehen, dass der Unterricht fortan auf Estnisch abgehalten werden sollte, aber da ein Großteil des Lehrkörpers aus dem Ausland kam, wurde Deutsch zur alles dominierenden Sprache. Der Reichsverband zur Bewahrung des Schwedentums im Ausland ernannte darüber hinaus einen Lektor für Schwedisch.
Andreas fand die Universität mindestens genauso schön wie Uppsala oder Lund, vor allem wegen des Hauptgebäudes, das ein stattliches Empirepalais mit einer Fassade war, die an eine dorische Säulenhalle erinnerte. Auf dem Universitätsgelände verteilt befanden sich neben den Institutsgebäuden zudem ein Botanischer Garten, ein Kunstmuseum und mehrere Kliniken.
Andreas mochte die Umgebung beeindruckend finden, Sören Christer dagegen war skeptischer. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass sein Vater jetzt Professor war, auch wenn er noch nie von Dorpat, oder Tartu, wie die Esten sagten, gehört hatte. In seinen Augen wäre es wesentlich besser gewesen, wenn sie in England, Deutschland oder noch lieber Frankreich gelegen hätte. Unabhängig davon freute er sich jedoch, dass sein Vater ihn eingeladen hatte, den Sommer bei ihm zu verbringen.
Er wusste, dass sein Vater enttäuscht von ihm war, das war schon immer so gewesen. Wobei er wirklich versucht hatte, sich zu bessern. Als sich seine Eltern scheiden ließen, war er sechs gewesen und hatte zunächst drei Jahre bei seiner Mutter in Rom gelebt, allerdings nur bis sie wieder heiratete und Kinder bekam. Daraufhin wurde er nach Schweden zu seinem Vater zurückgeschickt, der aber zu viel arbeitete, sodass er stattdessen bei verschiedenen Familien auf schonischen Pfarrhöfen untergebracht wurde. Das hatte nie funktioniert, die Familien hatten sich ständig über ihn beschwert.
Er schlenderte im Garten des Hauses umher, das Andreas nahe der Universität angemietet hatte, und schüttelte die Bäume. Manchmal trat er auch gegen sie. Ab und zu fielen einige halbreife Äpfel herunter, aber in erster Linie wirbelte trockenes Laub durch die Luft und blieb in seinen Haaren hängen, was ihm ganz und gar nicht passte, denn dann musste er ins Haus gehen und sich waschen. Und doch war es schön, gegen den Baum zu kämpfen, weil er sich nicht beklagte und stillstand, ohne nachzugeben. Außerdem sonderte er bei jedem Schlag einen Duft ab, der Sören Christer sehr gefiel. Es roch ein bisschen wie frisch geschlagener Dinkel.
Manchmal sprach er vorher mit dem Baum und sagte ihm, jetzt werde ich dir eine knallen. Was sagst du dazu, hä? Dann schlug er zu. Am schönsten war es, auszuholen und zu treten. Dann war es, als liefe ein Stoß durch seinen Körper, vom Fuß, der den Stamm traf, bis zum angespannten Nacken hinauf.
Sören Christer war den Baum gerade leid geworden, als Andreas ihn rief. Eine Stunde zuvor war er hinausgeschickt worden, weil sein Vater an seiner Vorlesung arbeiten wollte und sich von ihm gestört fühlte, obwohl er ganz still auf einem Stuhl gesessen hatte. Vielleicht hatte er ein bisschen darauf gewippt, aber ansonsten hatte er ganz still gesessen. Madeleine war vermutlich unterwegs, um irgendetwas zu erledigen. Sie hatte immer eine Menge zu erledigen. Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass sie ständig so viel zu tun haben konnte, sie schien immer beschäftigt zu sein. Trotzdem fand er nicht, dass sie besonders viel zustande brachte.
Obwohl er sie eigentlich mochte, sie war nett zu ihm. Wäre sie nicht so etepetete gewesen und hätte immer nach Seife gerochen, hätte er sie noch mehr gemocht. Ihre Kinder gefielen ihm dagegen überhaupt nicht. Er war ihnen nur wenige Male begegnet, aber sie forderten immer so viel Aufmerksamkeit und heulten bei jeder kleinsten Gelegenheit gleich los. Er brauchte sie nur anzufassen, schon flennten sie, liefen weg und petzten. Einmal hatte er sich bemüht, mit ihnen zu spielen, ihre Puppen versteckt und gesagt, sie sollten nach ihnen suchen. Aber sie hatten es nicht einmal versucht, sondern waren sofort flennend zu ihrer Mama gelaufen. Er hatte doch nur Verstecken spielen wollen, wenn auch mit ihren Puppen.
Er ging auf
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