Ein unversoehnliches Herz
hofftest du, jemand könnte sie für dich beantworten.
Eine Zeit lang hast du überlegt, dich bei Ellen Key zu melden. Amelie hat gesagt, dass sie ein oder zwei Nächte bei ihr verbringen wolle, ehe sie in die Tschechoslowakei zurückreisen würde, oder ging es diesmal nach Italien? Immer auf Reisen, denkst du, fort von allem, was Verantwortung heißt.
Aber du hast dich fast sofort dagegen entschieden. Vielleicht, denkst du, hockt dort auch Madeleine, mit all den anderen vereint, die gegen dich arbeiten. So haben sie es immer gehalten, dir immer misstraut und es nie angemessen zu würdigen gewusst, wenn du für sie dagewesen bist. Es kommt dir vor, als hätten sie deine Loyalität immer ganz selbstverständlich hingenommen. Es ist dir nie gelungen, ihre eigenartige Zweigleisigkeit zu durchschauen: Im einen Moment können sie über private Dinge tratschen, um im nächsten Augenblick mit wahrer Donnerstimme über Politik und die Weltenlage zu dozieren.
Sie machen dir Angst, Bruder, weil du sie nicht verstehst. Weil sie so viel können, aber so wenig über dich wissen, darüber, wie du wirklich bist.
Auch ich machte dir Angst. Meine Art, stets ungerecht zu sein und mich zu weigern, deine ausgestreckte Hand zu ergreifen. Deine ausgestreckte Hand, die mir immer bedrohlich erschien.Ich entdeckte nie etwas Versöhnliches an ihr. Und es gab immer einen Hintergedanken.
Andere Menschen werden von Liebe, Sexualität und Ambitionen getrieben. Dein Antrieb besteht darin zu helfen, oder vielmehr zu erlösen – aber darin sind alle anderen Antriebe auf eine seltsame Art, die außer dir niemand versteht, enthalten.
Bist du es, Poul, den du erlösen möchtest? Lebst du so deine Sexualität, deine Zielstrebigkeit und Leidenschaft aus?
So viele Male habe ich diese Frage gestellt, ohne jemals eine Antwort darauf zu bekommen. Du hast immer gleich reagiert: Stundenlang warfst du mir mein pervertiertes Sexualleben, meine gescheiterte Karriere und meine zerrüttete Ehe vor. Du wusstest, dass ich dir in allem zustimmen würde. Wir waren uns immer einig. Wir hatten ja so unterschiedliche Bedürfnisse.
Ich brauchte jemanden, der mir sagte, wie schlecht ich war; du brauchtest jemanden, der dir sagte, wie übermenschlich du warst. Aber meine Frage hast du mir nie beantwortet. Niemals.
Wen zum Teufel willst du erlösen und warum?
Aber ehrlich gesagt, es interessiert mich nicht. Nicht mehr. Wenn ich nur sicher sein könnte, dass du dir diese Frage auch einmal selbst gestellt hast. Aber so nahe lässt du niemanden an dich heran. Die Frage gehört zu mir, zu Menschen wie mir, mit dir hat sie genauso wenig zu tun wie mit Gunhild.
Eure Liebe steht über allem Fleischlichen, so wie deine Arbeit im Namen des Humanismus über simplen Karriereambitionen steht. Du bist kein Übermensch, Poul. Ganz egal, was du glaubst. Du hast die gleichen simplen Gründe für dein Handeln wie ich, Madeleine und Amelie oder sonstwer. Du bist das gleiche simple Gewürm wie wir – solange unsere Kräfte reichen, kämpfen wir alle ums Überleben, greifen wir nach dem gleichen Strohhalm, beten wir zum gleichen Gott, aus dem gleichen Grund und unabhängig davon, ob wir ihn nun Angst, Liebe oder Hass nennen.
Er wollte den Schmutz loswerden, nicht darin liegen
und spüren, wie er durch alle Körperporen eindrang.
Ahrweiler, 15. September 1921
Doktor Carl von Ehrenwall schuf sein Lebenswerk, die psychiatrische Anstalt, die seinen Namen trug, in Ahrweiler, einem kleinen Dorf in der Rheinpfalz. Er war erst zweiundzwanzig Jahre alt, als der erste Teil der Anstalt 1877 am westlichen Rheinufer fertiggestellt wurde. Unmittelbar danach begann er, umliegendes Land anzukaufen, und je besser der Ruf seiner Klinik wurde, desto mehr wurde angebaut. Es war ungewöhnlich, dass sie so stadtnah lag, aber das entsprach Ehrenwalls Absicht, die Anstalt zu einem Teil der Gesellschaft zu machen. Außerdem war es ihm wichtig, dass modernste Therapiemethoden angewandt wurden und die Atmosphäre beruhigend wirkte.
Man ermunterte die Patienten zu allen Arten der Leibesertüchtigung und zu stärkenden Spaziergängen in der schönen Landschaft. Gleiches galt für die landwirtschaftliche Arbeit, die man als wichtigen Aspekt im Heilungsprozess betrachtete. So modern wie die Therapie sollten auch die Räumlichkeiten sein. Die Anstalt verfügte als erstes Gebäude in der näheren Umgebung über Elektrizität, noch ehe Ahrweiler Strom bekam. Manche meinten allerdings, das Interesse, möglichst
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