Ein unversoehnliches Herz
Taube?«
»Genau. Früher war er mein Diener, aber ich habe ihn vor vier Monaten beim Kartenspiel verloren, was natürlich mit voller Absicht geschah. Mal ehrlich, wer will schon einen tauben Diener haben?«
Sören Christer lachte und zuckte mit den Schultern.
»Nein, genau«, sagte Lange. »Obwohl der eigentliche Grund, aber das bleibt jetzt bitte unter uns, das weiß sonst keiner …«
»Natürlich.«
»Ich spüre, dass Sie ein intelligenter Mann sind, dem man ruhig etwas anvertrauen kann.«
Sören Christer nickte und legte das Besteck ab.
»Der eigentliche Grund war, dass er für meine Zwecke verbraucht war.«
»Verbraucht?«
»Ich lebe seit zwei Jahren in dieser Anstalt. Wenn man sich hier nicht einzurichten weiß, ist diese Klinik ein verdammtes Kloster. Ich lasse Bergmann meine Kleider waschen, mein Essen servieren, meine Sachen holen, mein Zimmer putzen. Wie andere Diener auch. Außerdem bläst er mir einen, wenn ich es ihm sage. Ich bin zu alt, um zu wichsen, das ist nur was für kleine Jungs. Natürlich muss man sie anleiten, sie beherrschen es ja nicht von Natur aus wie eine Frau. Man muss ihnen zeigen, wie sie die Lippen spannen und den Mund öffnen müssen, damit die Zähne nicht im Weg sind.«
Er trank einen Schluck Bier und warf einen Blick über die Schulter. Eine Sekunde später war Bergmann da und nahm ihm das Glas ab. Kurze Zeit später kehrte er mit einem frisch gefüllten Glas zurück.
»Was glauben Sie, wie lange die anderen schon hier sind?«
»Wer?«
»Na, die hier«, antwortete Lange und machte eine Geste, die den ganzen Speisesaal einschloss.
Sobald er auf die Patienten zeigte, schlugen diese die Augen nieder und blickten auf ihr Essen.
»Das da ist Volk, ein ganz gewöhnlicher Bayer mit einem hässlichen Dialekt, der hier sitzt, seit er zehn war. Heute ist er zweiundzwanzig. Ein hoffnungsloser Fall. Dort sitzt Heider, er gehört zu den intelligenteren, stammt aber aus einer armen Familie. Er ist seit sechs Jahren hier. Fragen Sie mich nicht, wie die es sich leisten können, ihn hier unterzubringen. Und der Jude da hinten links, Rothstein, ist drei Jahre hier, wird aber nie mehr herauskommen. Seine Familie wird jeden Betrag zahlen, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Ein Pyromane, heißt es. Der Dicke da hinten ist von Rosen. Er ist seit sieben Jahren hier und wird noch einmal sieben Jahre hier sitzen. Mindestens. Wenn er herauskommt, wird er genauso verblödet sein wie bei seiner Einlieferung. Kein Elektroschock in der Welt kann sein Gehirn zum Zappeln bringen.«
Lange schien seine Ausführungen leid zu sein, wandte sich um und aß noch einen Bissen. Dann schob er den Teller von sich.
Sören Christer ertappte sich dabei, die Augen weit aufgerissen zu haben. Er hätte nicht gedacht, dass die Insassen schon so lange in der Anstalt waren.
»Und wie lange werden Sie hier sein?«, fragte er schließlich.
»Das kommt ganz darauf an.«
»Ich verstehe nicht ganz …«
Lange lächelte über Sören Christers Wissbegierde. Andererseits wirkte er zufrieden, so als hätte er erreicht, was er mit seinen kurzen Erläuterungen beabsichtigt hatte.
»Der Unterschied besteht darin«, erläuterte er, »dass ich hier jederzeit wieder verschwinden kann.«
»Das kann ja wohl nicht stimmen, oder?«
»Wenn ich es Ihnen doch sage.«
Lange schwenkte sein Glas, als wollte er das Bouquet eines französischen Jahrgangsweins freisetzen. Er trank einen Schluck und stellte das Glas wieder ab.
»Ich bin noch in der Anstalt, weil ich bleiben möchte. Es geht mir gut hier. Sollte ich das eines Tages anders sehen, werde ich abreisen.«
»Sie meinen, mit oder ohne Genehmigung?«
»Sie machen mir wirklich Spaß. Wie verschlägt es übrigens einen Schweden hierher?«
»Wie alle anderen, nehme ich an.«
Lange schien die Antwort zu gefallen. Er lächelte und nickte.
»Ich weiß, wie es einen Schweden hierher verschlägt. Aus zwei Gründen. Erstens: weil die Familie sich entschließt, das Problem zu lösen, ohne dass Außenstehende davon erfahren. Man kann es beispielsweise auf ein Studium im Ausland schieben. Zweitens: weil man es sich leisten kann.«
Drei Tage später, auf dem Weg zum oberen Flur, wo die meisten Patienten samstags drei Stunden gemeinsam verbringen durften, hatte Sören Christer das Gefühl, dass seine ganze Zukunft auf dem Spiel stand. Er hatte Lange versprochen, tausend Reichsmark zu setzen. Geld, das es, wie er nur zu gut wusste, nicht gab. Er hatte einen Bittbrief an seinen Vater
Weitere Kostenlose Bücher