Ein unversoehnliches Herz
schauderhafte Weise inmitten von Leichnamen zu wandeln, unter Menschen, die uns anderen in jeglicher Hinsicht, außer der Lebenstüchtigkeit, gleichen. Sie haben die gleichen Gefühle, die gleiche Art zu denken, die gleiche Sehnsucht, den gleichen Willen wie wir, dies alles jedoch in abgeschwächter Form, sodass sie im Kampf des Lebens letztlich unterliegen.«
Schon während seines Studiums an Professor Franz von Liszts Kriminalistischem Institut in Berlin spürte Andreas, dass die Kriminalpsychologie einen Punkt erreicht hatte, an dem es erforderlich war, von allgemeinen und indirekten Untersuchungen zu persönlichen Beobachtungen überzugehen. Es war wichtiger zuzuhören, als Statistiken zu deuten. Darüber hinaus war die Zeit reif, den Strafvollzug humaner zu gestalten, was er in seinem Vortrag »Zur Psychologie des Strafvollzugs« beschrieb.
Die Kategorisierung von Mördern konnte auf lange Sicht möglicherweise zu einer Erforschung verschiedenster Persönlichkeitstypen führen und es dadurch leichter machen, Signale zu deuten, die sich später in Straftaten äußerten. Das war seine Strategie – vorbeugend zu arbeiten. Aber um dorthin zu gelangen, würden eingehende Studien einer ganzen Reihe von Insassen erforderlich sein, die anschließend als Modell dienen konnten, während man die Individuen und Gruppen, zu denen sie gehörten, kontinuierlich weiterstudieren würde. Damit war er auf der Höhe seiner Zeit. So hatten beispielsweise William Thomas und Florian Znaniecki nach jahrelangen Gesprächen, die als Fallstudien präsentiert wurden, verdeckte Strukturen bei polnischen Bauern aufgedeckt, die nach Amerika ausgewandert waren.
In einem exaltierten Brief erzählte Andreas seinem alten Mentor von Liszt von den Plänen für sein neues Buch. Dessen Antwort fiel kurz und prägnant aus: »Ich finde, das klingt eher wie Psychoanalyse.«
Als Andreas aufwachte, fühlte er sich so stark wie seit langem nicht mehr.
Er konnte sich kaum erinnern, wann er zuletzt solche Lebenskraft in sich gespürt hatte. Wie sehr er diese Augenblicke liebte, wenn er mit Madeleine am Frühstückstisch saß und sie über alles und jedes lachten, sich kindisch benahmen, ohne an Dinge zu denken, die in der Zukunft lagen, an Sorgen und Leiden. Wenn er den Druck auf der Brust nicht spürte und die Schläfen nicht pochten und schrien. Aber dann wurde es ihm schlagartig bewusst: die Humlegårdsgatan, er war die Treppe hinaufgestiegen, und man hatte ihm die Tür geöffnet, er hatte sich aufs Bett gelegt, die Peitsche, ihr Befehlston …
Er beendete den Gedanken abrupt, schüttelte den Kopf, als hätte er Wasser in den Ohren, und atmete tief und konzentriert. So. Nun würde er an nichts anderes mehr denken als an Madeleine. Es war ein herrlicher Morgen, was geschehen war, war geschehen. Jetzt bloß nicht darüber nachgrübeln. Es ist weg, weg, weg .
Er biss ein Stück von seinem Brot ab und betrachtete Madeleine, die Wasser einschenkte. Er bekam unbändige Lust, ihr zu erklären, dass sie ihm ungeahnte Kräfte verliehen hatte, sie inniglich zu umarmen und ihr zu sagen, wie viel sie ihm bedeutete. Er küsste sie auf die Wange. Im ersten Moment wirkte sie überrascht, dann aber legte sich ein breites Lächeln auf ihr Gesicht. Er griff nach der Zeitung, die zusammengefaltet auf dem Tisch lag. Madeleine hatte sie bereits gelesen, da sie früh aufgestanden war. Es stand bestimmt nur das Übliche darin. Er begann einen Artikel darüber zu lesen, auf welche Art das deutsche Schulsystem als Vorbild für Schweden dienen könnte. Aber er las nur die Worte, sie sagten ihm nichts.
In Gedanken war er woanders.
Er beendete den Artikel und las als Nächstes von einem neuen Phänomen in der Zeitungswelt. In Amerika wurden seit neuestem Kreuzworträtsel veröffentlicht, welche die Leser lösten, um anschließend die Lösungen einzuschicken. Im Artikel waren Beispiele dafür abgedruckt, wie sie gestaltet waren, aber er fand, dass sie recht simpel aussahen. Es war schwer zu begreifen, was an ihnen so interessant sein sollte.
Er sah die Worte, die kreuz und quer auf der Seite verliefen, gab jedoch den Versuch auf zu verstehen, wozu das Ganze gut sein sollte.
Es waren nur Worte ohne Bedeutung.
Madeleine richtete sich auf und goss Kaffee in seine Tasse. Als sie näherkam, roch er ihren Duft. Ein Kaffeespritzer landete neben der Tasse, und sie lachte und strich eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war.
»Hoppla«, sagte sie.
Ihr
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