Ein unversoehnliches Herz
praktisch auf direktem Weg nach Hause war. Sie gingen die Birger Jarlsgatan hinauf, und dann merkte sie, dass Andreas’ Schritte etwas schneller wurden. Sie musste zügiger gehen, um mit ihm Schritt halten zu können, und hob den Rock ein wenig an, um nicht irgendwo hängen zu bleiben.
Am Ende kam es ihr vor, als bewegten sie sich beide im Laufschritt. Zeitweise fragte sie sich, ob er sie ertappt hatte, aber Andreas blickte weiter zu Boden. Sie sah ihn in der Humlegårdsgatan zu einem Hauseingang eilen, die Tür öffnen und sich hineinschieben.
Sie blieb einen Häuserblock entfernt stehen. Zögernd trat sie näher, aber als sie nur noch wenige Meter von dem Hauseingang entfernt war, traute sie sich nicht weiter. Als sie kehrtmachte, um den Heimweg anzutreten, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie kannte die Adresse, Elisabeth hatte sie erwähnt, Elisabeth Andersson, die in der Heilsarmee aktiv war und an nächtlichen Aktionen teilnahm, bei denen sie paarweise durch die Stadt liefen, um die »Töchter der Straße« anzusprechen. Mehrfach hatte sie Gunhild und Poul um Spenden für ihre Arbeit gebeten, die sie selbstverständlich auch bekommen hatte.
Nun erinnerte sich Gunhild auf einmal an Elisabeths lange, oft umständliche Berichte über gewisse Stundenhotels in den Stadtteilen Norrmalm und Östermalm und dass die Mädchen den größten Teil ihrer Zeit im Lill-Jans-Wald unter freiem Himmel verbrachten – aber auch über die etwas gediegeneren Einrichtungen, in denen die Männer ganz bestimmte Frauen bestellen und sich persönlich bedienen lassen konnten. Die Adresse in der Humlegårdsgatan hatte Elisabeth oft erwähnt. Mehrmals hatte sie erklärt, dass dort eines der besseren Bordelle oder »Freudenhäuser« lag, wie die Leute sie nannten, damit es menschenwürdiger klang.
War es wirklich denkbar … ?
Gunhild hielt mitten im Schritt inne.
War es wirklich denkbar, dass Andreas … ?
Sie verwarf den Gedanken. Natürlich nicht. Es gab mit Sicherheit eine akzeptable Erklärung dafür, warum Andreas dieses Gebäude betreten hatte, es gab …
Dann hatte sie plötzlich Amelies Verzweiflung über die aufreibende Scheidung im Ohr. Ihre Beschreibungen von Andreas’ Unfähigkeit, sich aus seinen Grübeleien zu befreien, ihr Klagen, dass er das Destruktive und Zersetzende suchte. Hatte Amelie ihr nicht – wenn auch nur durch die Blume – gesagt, dass er gelegentlich auch zu Prostituierten ging?
War es wirklich möglich, dass Andreas zu …?
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Poul inzwischen in eine leere Wohnung heimgekehrt sein musste. Und sie hatte ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen, sie hatte esdoch so eilig gehabt! Er war sicher schon krank vor Sorge.
Nun galt es, nach Hause zu eilen und sich eine gute Erklärung zurechtzulegen. Sie fand schnell eine Droschke, was ein wahrer Glückstreffer war.
»Schnell, schnell«, sagte sie, und warf sich förmlich in den Wagen, lehnte den Kopf gegen den Sitz und atmete tief durch. Außer Atem massierte sie ihre Handgelenke. Der Stress hatte dazu geführt, dass ihre Glieder höllisch weh taten. Sie knetete die Gelenke, um sie zu lockern, und schaute dabei zu dem kleinen Fenster hinaus, das eher einer Luke glich. Es war nicht weit, sie war nur ein paar Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Poul würde sie sagen, sie habe ein paar Dinge zu erledigen gehabt und sich dabei verspätet. Sie log nur selten, aber diesmal blieb ihr keine andere Wahl.
Lieber Bruder …
Sachte wenden sich deine Augen wieder dem Spiegel zu. Sobald du dein Spiegelbild erblickst, spürst du den vertrauten Druck auf der Brust.
Was die Nacht doch mit uns Menschen anstellt.
Wieder hörst du Madeleines Stimme. Deine gestrige Begegnung mit ihr hat zur Folge, dass die Gedanken keine Ruhe geben. Ihre Stimme verfolgt dich in dieser Nacht und weigert sich, dich zur Ruhe kommen und Schlaf finden zu lassen. Du denkst, dass sie für mich die Rolle eines Sprachrohrs aus dem Jenseits übernommen hat, jede kleinste Geste meintest du wiederzuerkennen, jeder Ton klang altvertraut, als sie dich beschuldigte und dir Vorwürfe machte. Du wirfst den Kopf, als wolltest du so das Bild abschütteln, dass sich in deinem Geist auftürmt: Madeleine und ich, beide höhnisch lächelnd und vorwurfsvoll.
Du schüttelst noch einmal den Kopf, als wolltest du dich davon frei machen, hebst drohend und etwas unbeholfen die rechte Faust.
Dann siehst du Gunhilds Gesicht vor dir, und dein Körper kann sich endlich
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