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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Bravinger
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hinaufzugehen, statt am Wasser zu bleiben, war schwer zu erkennen, wie weit sie noch gehen mussten. Zu allem Überfluss folgte ihnen mittlerweile ein Rattenschwanz von etwa zehn kleinen Jungen, alle barfuß und in löchrigen Kleidern, die um sie herumliefen, auf sie zeigten und grinsten. Amelie blieb zweimal stehen und fragte sie, ob sie nicht in der Schule sein sollten, statt herumzulungern und Leute zu schikanieren. Die Antwort der Jungen bestand in noch lauteren Zurufen und eifrigerem Zeigen.
    Plötzlich fuhr ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit und unter ständigem Glockenläuten um die Kurve und an ihnen vorbei. Kurz darauf folgte ein weiterer mit dem gleichen alarmierenden Klingeln. Diese wahnsinnigen Italiener, dachten sie, sich so in die Kurven zu legen. Als das zweite Auto an ihnen vorbeiraste, mussten sie sich in Sicherheit bringen.
    »Was war denn das?«, erkundigte sich Madeleine.
    Plötzlich lief die Horde von Jungs voraus und verschwand hinter einer Hügelkuppe. Wahrscheinlich war der Feuerwehreinsatz spannender als zwei müde, humpelnde Schwedinnen. Als sie jedoch selbst über die Kuppe gelangt waren, merkten sie, dass sich vor ihnen eine Menschenmenge gebildet hatte. Dort standen auch die beiden Feuerwehrwagen, die in solch rasendem Tempo an ihnen vorbeigefahren waren.
    Als sie näher kamen, sahen sie, dass große Geschäftigkeit herrschte und Leute umherliefen und einander zuriefen. Amelie und Madeleine erreichten den äußeren Kreis der Menschenmenge und versuchten zu begreifen, was da vorging. Es wurde wild gestikuliert, aber es war schwer herauszufinden, was vorgefallen war, weshalb Amelie sich durch die Menge zwängte und Madeleine mitzog. Neugierig, wie sie war, wollte sie herausfinden, warum ein solcher Aufstand gemacht wurde.
    Ein zahnloser alter Mann drehte sich zu ihnen um und erklärte, zwei Frauen seien ermordet worden. Daraufhin wurde er von einem ebenso zahnlosen Greis berichtigt, der meinte, es handele sich höchstwahrscheinlich um ein Eifersuchtsdrama, jemand habe seine beiden Töchter im Fluss ertränkt, man werde bald mit dem Draggen suchen, um die Leichen aus dem Wasser zu fischen.
    »Wie schrecklich«, sagte Amelie zu Madeleine, »deshalb ist die Feuerwehr so schnell ausgerückt. Wie furchtbar!«
    Dann wurde ihnen klar, dass sie wieder an dem Strand waren, auf dem ihre Sachen lagen, und sahen die alte Wäscherin, die erregt gestikulierte, sich bekreuzigte und auf den Fluss hinauszeigte. Amelie sah Madeleine an und machte ein Gesicht, als hätte man sie beim Äpfelklauen erwischt.
    Durch die Menschenmenge zwängten sich drei schnurrbärtige Carabinieri – zwei Tote, zwei Frauen sind tot! Die Wäscherin war mittlerweile so hysterisch, dass alle ihre verzweifelten Rufe hören konnten. Zwei Frauen sind ertrunken!
    Von welchen beiden Frauen die Rede war, lag auf der Hand. Amelie und Madeleine sahen sich an und wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten.
    Dann packte Amelie Madeleines Arm und zog sie näher zu sich heran. Sie flüsterte:
    »Wir könnten jetzt verschwinden, Madeleine, und kein Mensch würde nach uns suchen.«
    Sekundenlang stand Amelie mucksmäuschenstill, als dächte sie ernsthaft über diese Alternative nach. Dann aber marschierte sie resolut zu den Polizisten, stellte sich vor, zeigte auf die Kleiderhaufen und das Wasser und erläuterte mit ein paar Schwimmzügen, was geschehen war. Die Polizisten betrachteten sie mit skeptischen Mienen und musterten ihre Aufsehen erregende Kleidung. Dann aber warf sich die Wäscherin in Amelies Arme, blickte gen Himmel und dankte der Heiligen Jungfrau Maria für ein Wunder.
    Es dauerte weitere zwanzig Minuten, bis alle Missverständnisse geklärt waren. Es würde ein Bericht mit Unterschrift und Beglaubigung verfasst werden. Schließlich entfernten sich die Polizisten und die Mehrzahl der Schaulustigen. Sogar die waschende Alte ging mit ihrem Wäschekorb nach Hause, und nur ein paar kleine Jungen, die nichts Besseres zu tun hatten, blieben zurück.
    Sie nahmen den gleichen Weg zurück zur Via Flaminia und waren auf Grund der Ereignisse noch ziemlich überdreht. Sie lachten und beklagten sich darüber, wie hungrig sie waren. Sie hatten den ganzen Tag kaum etwas gegessen. Gemeinsam hatten sie etwas erlebt, das sie an ihre Kindheit erinnerte – damals waren sie beide gegen den Rest der Welt angetreten. Fünfzehn Jahre war das jetzt her, eine Ewigkeit und gleichzeitig nur einen kurzen Moment.
    Plötzlich hielt Amelie inne.

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