Ein unversoehnliches Herz
Ich gehe sie holen.«
»Wie nett von ihr, dass sie den weiten Weg hierher gekommen ist. Wo wohnt sie noch? War es Wien?«
Andreas wandte sich um.
»Ich bin sofort wieder zurück.«
Er eilte ins Wohnzimmer, wo er vom gleichen unerschütterlichen Schweigen empfangen wurde, das er verlassen hatte.
»Vater ist jetzt wach.«
Er konnte die Freude in seiner Stimme nicht verhehlen.
»Er möchte dich schrecklich gerne treffen, Madeleine. Beeil dich!«
Sie stand sofort auf, wirkte fast ein wenig verlegen. Seine Mutter dagegen blickte nicht von ihrem Strickzeug auf, als sie sagte:
»Stör ihn bitte nicht zu lange, hörst du, Andreas?«
»Natürlich nicht«, sagte Madeleine, trat zu ihr, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, ging zu Andreas und hakte sich bei ihm unter. Gemeinsam begaben sie sich zum Schlafzimmer seines Vaters.
Als sie eintraten, wurden sie von lautem Schnarchen empfangen. Andreas ging zum Bett und legte eine Hand auf die Schulter seines Vaters, der jedoch nicht reagierte.
»Wir sollten ihn vielleicht nicht stören«, sagte Madeleine.
»Aber er ist doch gerade noch wach gewesen. Er kann nicht fest schlafen.«
Er rüttelte seinen Vater leicht.
»Vater, wir sind jetzt hier. Madeleine ist hier.«
»Andreas, ich …«
Madeleine biss sich auf die Lippe und schaute weg, ohne den Satz zu beenden.
»Aber er ist doch eben noch wach gewesen«, erklärte Andreas und schlug seinen Vater ganz leicht auf die Wange. »Vater, wach auf!«
»Ich will nicht …«
»Nun hör schon auf, dir solche Sorgen zu machen, Madeleine. Er wollte dich gerne sehen.«
Sie seufzte, während Andreas etwas fester an seinem Vater rüttelte, der sich, weiterhin tief schlafend, umdrehte, als wollte er sich freimachen.
»Andreas, ich möchte jetzt gehen.«
»Vater, wir sind jetzt hier!«
Andreas packte noch fester zu. Sein Vater wälzte sich von einer Seite auf die andere, aber seine Augen blieben geschlossen.
»Ich gehe jetzt«, sagte Madeleine und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Andreas packte ihren Arm. Sie versuchte sich loszumachen.
»Ich will jetzt gehen«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Er schläft, das siehst du doch.«
»Bitte, geh nicht.«
Erst schien sie wütend zu sein, aber dann ließ sie sich erweichen. Sie streichelte seine Wange.
»Ein anderes Mal, Andreas. Ein anderes Mal. Ich möchte ins Hotel und mich ausruhen. Ich bin müde von der Reise.«
Sie bewegte sich zur Tür, und er schien kurz zu zögern, als wüsste er nicht, ob er sie begleiten sollte oder nicht. Schließlich folgte er ihr ins Wohnzimmer.
»Danke, dass Sie mich empfangen haben«, sagte Madeleine. »Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«
Sophie blickte von ihrem Strickzeug auf und lächelte zum ersten Mal.
»Danke, dass Sie gekommen sind.«
Madeleine machte einen Knicks und verließ das Zimmer. Andreas folgte ihr mit gesenktem Kopf. Als sie durch die Haustür getreten waren, wandte sich Madeleine um.
»Das macht doch nichts, Andreas. Sei nicht traurig.«
»Er wollte dich so gerne sehen.«
»Ich bin froh, dass ich ihn sehen durfte. Er sieht nett aus.«
»Vielleicht können wir ihn morgen früh noch einmal besuchen, bevor dein Zug geht.«
»Nein, Andreas, das schaffen wir nicht.«
Sein ganzer Körper sackte in sich zusammen, und er blieb stehen, als wäre er auf einmal ein sehr alter Mann. Sie musste ihn einfach umarmen.
»Andreas, ich bin dir zuliebe gekommen. Aber Dinge, die nicht in unserer Macht stehen, können wir nicht ändern, das ist nun einmal so. Ich bin froh, dass ich gekommen bin. Ich finde, du solltest bei deinem Vater bleiben, bis es ihm wieder besser geht. Morgen fahre ich nach Hause.«
Sie gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange.
Lieber Bruder …
Horch! Hörst du? Vor dem Fenster singt ein Vogel, ein Fitis, der aus irgendeinem Grund vor Einbruch des Winters nicht gen Süden gezogen ist. Jetzt ist er übrig geblieben und sieht einem erbarmungslosen Winter mit geringen Überlebenschancen entgegen.
Du schaust zum Fenster hinaus und musst wegen der tief stehenden Sonne blinzeln. Nein, niemals wird dieser Vogel bis zum Frühjahr leben, wenn die anderen aus Afrika zurückkehren, denkst du, und wendest deinen Blick wieder dem Zimmer zu. Dann erkennst du auf einmal, dass du dir das eingebildet haben musst. Wie seltsam! Wie konntest du nur glauben, einen Fitis zu hören? Ende November.
Die Sinne, überlegst du, können einem manchmal einen Streich spielen, wenn man nicht auf der Hut ist. Außerdem
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