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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Bravinger
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um acht Uhr morgens Stockholm erreichte, war er nicht müde, obwohl er während der zehnstündigen Zugfahrt kaum geschlafen hatte. Sein Gehirn mochte erschöpft sein – aber auch gesund, gereinigt.
    Als er sich in die Droschke setzte und den Taxichauffeur anwies, ihn nach Heleneborg zu fahren, fühlte er sich genauso ruhig wie vor Pouls Anruf wenige Wochen zuvor, durch den ihn die Nachricht vom Herzanfall seines Vaters erreicht hatte. Nein, stärker. Die Worte seines Vaters hatten ihn zusätzlich gekräftigt. Wenn er sich dieses Gefühl bewahren konnte, würde er nach seiner Ankunft zu Hause sofort arbeiten. Bis zum Dreikönigstag hatte er keine anderen Verpflichtungen, er würde das neue Vorwort ins Reine schreiben können.
    Ihm stand alles ganz deutlich vor Augen: Er hatte sich zu sehr auf die Interviews mit den Gefangenen konzentriert und es dadurch versäumt, seine eigene Rolle zu sehen. Sein Auftrag bestand nun darin, seine Forschungsergebnisse in klarer Form darzulegen und die Stimmen der Insassen so authentisch stehen zu lassen wie möglich. Das Problem hatte darin bestanden, wie das Vorwort diese Denkweise dem Leser nahebringen sollte, und zwar unabhängig davon, ob dieser nun Gefängnisdirektor, Jurist oder Laie war.
    Es ist alles so viel einfacher, dachte er, wenn das eigene Handeln eine Richtung hat. Wenn die Zweifel verblassen. Er versuchte, sich vorzustellen, wie viel er leisten könnte, wenn er nur über längere Phasen hinweg ungestört arbeiten dürfte. Was könnte er nicht alles zu Wege bringen! Es würde keine der zahllosen unvollendeten Arbeiten mehr geben, die in Blätterstapeln in der Schublade lagen, um anschließend an unterschiedlichen Orten archiviert zu werden.
    Die Droschke hielt vor dem Haus, und seine Füße trugen ihn beschwingt die Treppe hinauf. Er ging zur Tür und klopfte an. Er wollte Madeleine unbedingt überraschen. Sie wusste nicht, dass er einen früheren Zug genommen hatte, und erwartete ihn erst am Nachmittag. Sie konnte nicht wissen, wer an die Tür klopfte, vielleicht der Hausmeister, der eines seiner idiotischen Anliegen vorbrachte, die er den Leuten immer aufzwang, oder die Nachbarin, die dauernd herumschnüffelte und tratschte.
    Er hörte ihre Schritte hinter der Tür.
    Als sie öffnete, stand sie ungekämmt und mit Schürze vor ihm. Sie lächelte und schien auf eine Weise überrascht zu sein, die er nicht deuten konnte.
    Mit ihrem Lächeln stimmte etwas nicht. Er sah es daran, wie sie mit den Händen über ihre Schürze strich und den Kopf schief legte.
    Dann wusste er, was los war.
    »Oh, Andreas. Deine Mutter hat gerade angerufen.«
    Er verstand. Sie musste es nicht aussprechen.
    »Dein Vater ist tot. Er ist vor zwei Stunden gestorben.«

Stockholm, 22. Januar 1914
    Långholmen war bis 1647 im Besitz des Königshauses gewesen, dann schenkte Königin Christina die Felseninsel der Stadt Stockholm. Um der Landstreicherei Herr zu werden, sollten laut Gesindeordnung aus dem Jahre 1723 hier alle Müßiggänger und Personen ohne Anstellung gegen Kost und Logis arbeiten. In diese Kategorie fielen alle, die weder Besitz noch einen Dienstherren vorweisen konnten. Um diesen Menschen Arbeit zu verschaffen, erwarb das Kommerzkollegium 1724 das Stadtgut Alstavik und richtete dort das erste Gefängnis der Insel ein. Die Frauen wurden ins Spinnhaus geschafft und die Männer ins Raspelhaus, wo ihre Zwangsarbeit darin bestand, Farbpigmente herzustellen.
    Eine neue, größere Anlage war 1754 fertig geworden und konnte in getrennten Gebäuden sowohl Frauen als auch Männer aufnehmen. Der Ausbau ging im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts weiter. Das Staatsgefängnis mit sechzig Zellen und einer hohen Mauer sollte den Bedarf an Gefängnisplätzen eigentlich bis in alle Ewigkeit decken, aber schon kurze Zeit später musste die Stadt erneut anbauen: Der Bedarf schien unerschöpflich zu sein. Erst mit der Fertigstellung des Zentral gefängnisses, erbaut von Vilhelm Theodor Ankarsvärd und eingeweiht 1880, konnte man von einem endgültig ausgebauten Betrieb sprechen.
    Das Gefängnis hatte zu diesem Zeitpunkt über dreihundert Zellen und eine eigene Kapelle.
    Wahrscheinlich gab es keinen anderen Ort in Schweden mit einer stärker von Verachtung, Hass und Gewalt geprägten Atmosphäre. Trotzdem fand Andreas den kurzen Fußweg dorthin jedesmal beruhigend. Manchmal machte er von Heleneborg aus sogar einen Umweg, nur um das Gefühl länger auszukosten. Er war aufmerksam, grüßte die Menschen, denen

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