Ein unversoehnliches Herz
flüchtigen Blick auf Gunhild, ihr Blick folgt dir.
Du wirfst ihr eine Kusshand zu. Sie fängt sie pantomimisch auf und presst sie sich ans Herz. Diesem Spiel seid ihr in all den Jahren treu geblieben. Allerdings habt ihr dies noch nie im Beisein anderer getan. Doktor Lenmalm kann zwar nicht wissen, welche Bedeutung es hat, aber man weiß nie, denkst du, in gewisser Weise ist es zweier erwachsener Menschen nicht würdig, im Stile schwärmerischer Jugendlicher zu spielen.
Du schließt die Tür hinter dir und gehst zur Küche. Erst als du sie betrittst und Signhild und Lisa begegnest, die in eine Unterhaltung vertieft sind, erkennst du, dass du keine Ahnung hast, warum du dorthin gegangen bist. Es hatte einen Grund, das weißt du genau, aber jetzt kannst du dich beim besten Willen nicht mehr an ihn erinnern.
Signhild und Lisa knicksen und warten darauf, dass du dein Anliegen vorbringst, aber du machst auf dem Absatz kehrt, lässt sie stehen und gehst ins Arbeitszimmer.
Du tauchst die Feder in Tinte und formulierst eine kurze Nachricht, wofür du erstaunlich viel Zeit benötigst. Dreimal wirfst du das Geschriebene in den Papierkorb neben dem Schreibtisch. Das vierte, mit dem dritten identischen Blatt, behältst du schließlich. Darauf steht:
Liebe Amelie!
Wie schön, dass Du heute kommen konntest – Deine Mutter freut sich sehr auf Deinen Besuch! Wir hoffen alle auf eine neuerliche Genesung, und Doktor Lenmalm hat angedeutet, dass wir den Mut nicht sinken lassen dürfen.
Ich möchte Dich jedoch um einen kleinen Gefallen bitten: Ich wäre Dir ungeheuer dankbar, wenn Du es unterlassen könntest, von Andreas und dem traurigen Vorfall zu erzählen. Die Sache ist aus verschiedenen Gründen sehr belastend gewesen, und es erschien mir unzumutbar, Deiner Mutter dieses tragische Ereignis in ihrem momentanen Zustand aufzubürden.
Dein ergebener
Poul
Du faltest den Brief zusammen und begibst dich zu Signhild in die Küche, um sie zu bitten, ihn Amelie bei ihrer Ankunft zu überreichen.
Anschließend ziehst du das Jackett an und gehst ins Atelier. Du hast beschlossen, den Rest des Tages dort zu arbeiten, dir geht so viel durch den Kopf, dass du es kaum erwarten kannst, dort hinzukommen, um das kräftezehrende Geschehen endlich in etwas Nützliches zu verwandeln.
Etwas zu erschaffen! Die Rettung, denkst du, liegt für einen kreativen Menschen darin, dass er etwas erschaffen kann, wo vorher nichts war. Ein Wunder, das ein Mensch, der nicht kreativ ist, nie wirklich verstehen wird, so sehr er es auch versuchen mag. Diese Mischung aus Hochgeistigem und harter Arbeit ist für dich seit jeher das Sinnbild künstlerischen Schaffens gewesen. Erforderlich sind Konzentration und die Fähigkeit, den flüchtigen Augenblick einzufangen, aber auch, dass man ihn mit viel Feinschliff und Seelenqual umsetzt. Die schöpferische Kraft und die Lust an ihr verschwinden so schnell, wie sie auftauchen; man verliert sie, sobald man nicht in ihrem Geiste handelt.
Du hast dein ganzes Dasein so eingerichtet, dass du in einem engen Kontakt zu deiner Inspiration leben kannst. Ganz Vårstavi, dein Stolz, ist ein Beispiel dafür. Aber um dich dennoch stets an deinen Auftrag zu erinnern, hast du über dem Schreibtisch eine kleine Tafel mit einer unmissverständlichen Ermahnung angebracht: DO IT AT ONCE.
Das Gesicht war gleichsam ausgelöscht;
es war nur eine weiße Haut,
ein dünner, durchsichtiger Belag.
Göteborg, 22. Dezember 1913
Sören Bjerres Zustand verbesserte sich in der zweiten Dezemberwoche 1913 zusehends, auch wenn er weiter das Bett hüten musste. Doktor Belfrage hatte festgestellt, dass keine Läh mungserscheinungen oder andere bleibenden Schäden vorla gen. Grund zur Sorge bereitete allein die starke Schwächung durch die Herzattacke. Er würde noch lange ruhen müssen, um sich ganz zu erholen. Die größte Gefahr waren wiederkehrende Infektionen, die bei seinem entkräfteten Zustand lebensgefährlich verlaufen konnten. Vermutlich, so Doktor Belfrage, waren es auch die Infektionen gewesen, die das Herz den ganzen Herbst und Winter über so belastet hatten.
Angesichts des verbesserten Zustands seines Vaters reiste Andreas nach Stockholm zurück. Er wusste, dass er die Arbeit an seinem Mörderbuch abschließen musste. So nah wie jetzt war er einer Beendigung der Arbeit noch nie gewesen. Er ging davon aus, dass es zum jetzigen Zeitpunkt fertig gewesen wäre, wenn er nicht so überstürzt nach Göteborg gemusst hätte.
Als der Zug
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