Ein Vampir fuer alle Sinne
immer Tageslicht, und das machte ein solches Unterfangen zu riskant, weil die Möglichkeit bestand, dass einer der Jäger im Haus sie bemerkte und die Verfolgung aufnahm.
Außerdem bestand die Gefahr, dass sie von irgendeinem Nachbarn gesehen wurde. Eine zierliche Frau im Hosenanzug, die eine drei Meter hohe Mauer überwand, als würde sie einen kniehohen Zaun übersteigen, das würde jeden misstrauisch machen. Also musste ein anderer Plan her.
Missmutig kniete sie sich vor den Rosenbüschen hin und begann, mit den Händen die Erde zur Seite zu schaufeln. Dummerweise hatten die Hausbewohner erst kurz zuvor noch die Rosen gegossen, sodass sich die Erde in Morast verwandelt hatte. Na, großartig, dachte sie und verzog den Mund, buddelte aber weiter.
Zum Glück musste sie nicht zu lange graben. Zwar verlief der Zaun zu beiden Seiten des Grundstücks bis an die Mauer um Pauls Garten, aber diese Mauer bot ihnen offenbar genug Schutz und Privatsphäre, sodass sie dort auf den Zaun ganz verzichtet hatten. Für sie bedeutete das weniger Arbeit. Dank ihrer überlegenen Kraft und Schnelligkeit hatte sie innerhalb kürzester Zeit nur mit den Händen ein Loch von einem Meter Durchmesser und einem Meter Tiefe gegraben, womit sie sich unterhalb der Höhe befand, in der die Mauer errichtet worden war.
Dann legte sie sich auf die Seite und grub mit nur einer Hand weiter, wobei sie die Erde von der anderen Seite der Mauer hervorholte, um auch dort ein Loch entstehen zu lassen. Erst als sie dort an der Oberfläche angekommen war, fiel ihr ein, dass sie erst nach Boomer hätte rufen sollen, um sich zu vergewissern, dass er sich auch tatsächlich im Garten aufhielt. Aber bei der nächsten Bewegung hörte sie von nebenan ein aufgeregtes Bellen, und dann bemerkte sie, wie der Hund versuchte, mit seiner Pfote ihre Hand zu fassen zu bekommen. Er war also noch im Garten.
Jeanne Louise ging noch schneller zu Werke, da sie fürchtete, Boomer könne mit seinem Bellen die Vollstrecker darauf aufmerksam machen, dass im Garten irgendetwas vor sich ging. Nur wenige Augenblicke später war das Loch groß genug, dass der Hund sich hindurchzwängen konnte, was er unaufgefordert auch prompt tat. Schwanzwedelnd kam er auf ihrer Seite aus dem Loch in der Erde hervor und leckte vor Freude Jeanne Louise übers Gesicht.
»Braver Hund«, keuchte sie außer Atem und stand auf. Dann durchquerte sie eilig den Garten, während sie angestrengt auf Geräusche von nebenan achtete, die darauf hindeuten konnten, dass man ihr bereits auf den Fersen war. Als sie am Gartentor angekommen war und noch immer nichts hörte, konnte sie davon ausgehen, dass diese Aktion unbemerkt geblieben war. Sie drückte den Hund an sich und sprang abermals über das Gartentor, dann lief sie zu dem Wagen, der auf sie wartete.
Paul fuhr sofort los, als sie eingestiegen war, wobei er die Straße im Auge behielt, zwischendurch jedoch einen Blick zu dem Zaun wagte, als erwarte er, dass jeden Moment jemand auf sie zugestürmt käme.
»Ich glaube, es hat geklappt«, sagte sie und tätschelte Boomer, während sie versuchte, ihn dazu zu bringen, dass er sich auf ihren Schoß legte. Der Hund wusste nicht, ob er lieber ihr Gesicht ablecken oder es sich auf Pauls Schoß bequem machen sollte. Sie hielt ihn einfach fest und streichelte ihn weiter. »Niemand dürfte etwas mitbekommen haben.«
Paul wurde etwas ruhiger und sah nun nur noch abwechselnd auf die Fahrbahn und in den Rückspiegel. Schließlich räusperte er sich und fragte: »Ähm … und wie hast du ihn da rausgeholt?«
»Ich habe einen Tunnel unter der Mauer hindurch gegraben. Ich hielt das für sicherer, als über die Mauer zu springen und dabei gesehen zu werden.«
»Aha«, murmelte er.
Als sie ihn ansah, fiel ihr auf, dass sein Mundwinkel zuckte. »Aha?«, wiederholte sie misstrauisch. Der Mann versuchte offenbar, sich das Lachen zu verkneifen. »Was heißt ›aha‹?«
»Na ja …« Er räusperte sich. »… das erklärt, warum ihr beide so ausseht, als hättet ihr euch im Schlammcatchen versucht.«
Jeanne Louise sah an sich herab und betrachtete den Hund, dann seufzte sie leise. Sie war mit feuchter Erde besudelt. Am schlimmsten waren ihre Hände und Arme, die aussahen, als hätte sie sie in eine Schlammpackung getaucht, aber der Rest sah nicht viel besser aus. Ihre weiße Seidenbluse konnte sie bestimmt wegschmeißen, und ihre Anzughose hatte auch einiges abbekommen, schließlich hatte sie zuerst im Garten gekniet und
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