Ein Vampir fuer alle Sinne
zu ihm gesprochen hatte. Er war groß und hatte lange blonde Haare, leuchtend silbrig blaue Augen und einen ernsten Gesichtsausdruck.
»Livy?«, fragte er, weil es das Wichtigste für ihn war.
»Den schlimmsten Teil der Wandlung hat sie hinter sich. Von jetzt an sollte ihr nichts mehr zustoßen«, erklärte der Mann ernst.
Paul atmete erleichtert auf, dann stellte er die zweitwichtigste Frage. »Und Jeanne Louise?«
»Sie ist oben und trinkt. Blut und Medikamente sind später noch eingetroffen, aber sie wollte die ganze Nacht nicht von Livys Seite weichen, solange nicht sicher war, ob sie durchkommt.«
Er nickte nur, da es ihn nicht überraschte, das zu hören. »Und wer bist du?«
»Ich habe mich schon gefragt, wann du dich danach erkundigst«, gab der Mann lächelnd zurück. »Nicholas Argeneau, der Bruder von Jeanne Louise.«
Paul sah ihn eine Weile an, dann ließ er den Kopf zurück aufs Bett sinken. »Und noch einer mehr von denen, die mich aus tiefstem Herzen hassen.«
»Nein.«
Die Antwort veranlasste ihn dazu, den Kopf erneut zu heben. »Und wieso nicht?«, fragte er erstaunt. »Ich habe deine Schwester entführt, und sie hat darauf verzichtet, ihren Lebensgefährten wandeln zu können, weil sie meine Tochter gerettet hat.«
»Na ja, ich stochere schon seit ein paar Minuten in deinem Kopf rum, daher weiß ich, du hast Jeanne Louise aus Verzweiflung entführt, um deine Tochter retten zu können. Du hast dein Bestes getan, um ihr nicht wehzutun und um es ihr so angenehm wie möglich zu machen. Ich weiß auch, dass sie nicht lange deine Gefangene war, sondern freiwillig bei dir geblieben ist. Ich weiß, ihr beide liebt euch, und ihr hattet vor, dass sie dich wandelt, damit du anschließend Livy hättest wandeln können, weil ihr dann als Familie hättet zusammenbleiben können. Aber die Ereignisse haben euch überrollt, und jetzt kann sie dich nicht mehr wandeln.«
Nicholas seufzte und rieb sich ermattet den Nacken, dann fügte er hinzu: »Ich hasse dich nicht, Paul Jones. Vielmehr tust du mir leid. Du und Jeanne Louise, ihr beide tut mir im Augenblick leid.«
»Wir schaffen das schon«, gab Paul zurück, verspürte jedoch einen Anflug von Angst. »Livy wird gesund, und dann werden wir eine Familie sein, nur nicht für so lange, wie wir das erhofft hatten.«
»Glaubst du wirklich, Jeanne Louise will dir beim Sterben zusehen, wenn du das bei Livy nicht machen wolltest?«, fragte Nicholas.
»Ich liege nicht im Sterben«, stellte Paul klar.
»Du bist sterblich«, hielt der andere Mann dagegen. »Alle Sterblichen sterben, nicht ganz so schnell wie Livy oder wie jemand mit einer anderen Krankheit. Du hast noch zwanzig bis vierzig Jahre vor dir, aber für uns ist das kaum mehr als ein Wimpernschlag. Mit jedem Tag kommst du deinem Grab ein Stück näher, und wenn ihr beide ein Paar bleibt, dann muss Jeanne Louise dich auf diesem Weg begleiten und schließlich von dir Abschied nehmen.«
Paul starrte den Unsterblichen an, dessen Worte in seinem Kopf nachhallten. Sie versetzten ihn in Panik, dass Jeanne Louise ihn vielleicht sofort verlassen würde, um nicht irgendwann am Rand seines Grabs zu stehen und seiner Beerdigung beiwohnen zu müssen.
»Dazu wird es nicht kommen«, widersprach Nicholas seinen Überlegungen. »Du bist ihr Lebensgefährte, sie wird sich nicht von dir abwenden. Sie wird bis zu deinem letzten Atemzug bei dir bleiben, und wenn sie dich verloren hat, wird ihr Herz gebrochen sein, und sie wird sich zurückziehen, um immer wieder die Zeit zu durchleben, die sie mit dir verbracht hat. So ist es mir ergangen.«
»Du hast deine Lebensgefährtin verloren?«
Nicholas nickte. »Aber ich fand eine neue.«
»Das wird ihr vielleicht auch passieren«, gab Paul zu bedenken.
»Vielleicht ja. Aber für Unsterbliche können Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende vergehen, ehe das passiert. Und wenn ihr nächster Lebensgefährte auch ein Sterblicher ist …« Er schüttelte den Kopf. »Dann macht sie das alles noch einmal durch, die Liebe, den Verlust, die Verzweiflung.« Nicholas verstummte und schaute betrübt vor sich hin. Offenbar fühlte er mit seiner Schwester mit und sah für sie keine besonders glückliche Zukunft.
Und alles ist meine Schuld,
hielt sich Paul vor Augen.
Hätte er bloß einen Moment lang nachgedacht und die Schwimmflügel und das aufblasbare Boot nicht mit der Kreditkarte bezahlt, dann wäre ihre Familie nie auf die Idee gekommen, in den Ortschaften um den See herum nach ihnen
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