Ein Vampir fuer alle Sinne
begann eine Nummer einzutippen. Dabei drehte er sich zur Seite, um an Paul vorbei nach oben zu gehen.
Paul hatte nun freie Bahn, er lief nach unten und kniete sich auf die andere Seite neben Livy. Angst und Ungewissheit standen ihm ins Gesicht geschrieben. Schweigend kauerte er da, während Jeanne Louise ihr Handgelenk von Livys Mund nahm und die Kleine hochhob. Als er ihr in das Schlafzimmer folgte, aus dem sie eben erst gekommen waren, fragte er im Flüsterton: »Wird sie überleben?«
Jeanne Louise antwortete nicht sofort, sondern legte Livy erst einmal aufs Bett und drehte sie auf den Bauch, damit sie sich die Wunde am Hinterkopf genauer ansehen konnte. Sie war tatsächlich so groß, wie sie sich angefühlt hatte. Jeanne Louise konnte bis auf den Schädelknochen sehen, der einen Riss aufwies.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte sie betrübt. Gut sah es jedenfalls nicht aus. Die Nanos mussten nicht nur den Tumor in Angriff nehmen, sondern jetzt galt es auch noch die Kopfverletzung zu reparieren und den Blutverlust auszugleichen – und das alles, wo Livy ohnehin so geschwächt war.
»Lass sie bitte nicht sterben«, flehte Paul leise. Es war eigentlich ein Stoßgebet in Richtung Himmel, um Gott um Hilfe zu bitten, dennoch zuckte Jeanne Louise leicht zusammen, da es sich so anhörte, als würden seine Worte ihr gelten.
Plötzlich hob sie ihren unversehrten Arm, bohrte die Fangzähne ins Fleisch und riss sich vor Pauls Augen einen mindestens doppelt so großen Hautlappen vom Handgelenk. Er wollte sich abwenden, aber er wusste, das durfte er nicht machen, denn das hier tat sie für ihn, für ihn und Livy.
Hatte sie bei der anderen Hand bloß ein unbehagliches Grummeln von sich gegeben, kam diesmal ein lauter Schmerzensschrei über ihre Lippen. Dann drückte sie ihre eigene klaffende Wunde auf die des Mädchens, während sie ihren Arm regelrecht zu wringen begann, um das Blut herauszupressen. Paul musste schlucken, als er ihr angestrengtes, fauchendes Atmen hörte. Er wusste ganz genau, dass sie sich dadurch selbst nur noch schlimmere Schmerzen bereitete. Plötzlich wandte er sich ab und lief ins Badezimmer zwischen den beiden Schlafzimmern.
Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber das war nicht der Grund, weshalb er hier war. Während er den gallenbitteren Geschmack in seiner Kehle unterdrückte, öffnete er den Schrank unter dem Waschbecken und nahm einen Stapel Handtücher heraus, mit denen er nach nebenan zurückeilte. Die Wunde an Jeanne Louises Handgelenk hatte sich schon wieder weitestgehend geschlossen, nur ein kleines Rinnsal lief noch heraus, obwohl sie den Unterarm drückte und quetschte, um noch etwas herauszuholen.
Schließlich gab sie es auf und ließ die Arme sinken. Paul stellte sich zu ihr und wickelte je ein Handtuch um ihre Handgelenke, die er dann festzurrte.
»Warum hast du dein Blut in ihre Wunde tropfen lassen?«, fragte er, als er auch mit dem zweiten Handgelenk fertig war. »Wird das was ausmachen?«
Jeanne Louise schüttelte den Kopf und seufzte erschöpft. »Ich habe keine Ahnung. Es war das Einzige, was mir einfallen wollte. Vielleicht gelingt es den Nanos, die Kopfverletzung so schneller zu heilen. Außerdem hat sie einen Schädelbruch erlitten, und es könnte sein, dass sie so eher an den Tumor gelangen, damit sie ihn bekämpfen können. Ob es etwas nützen wird …« Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
»Es könnte etwas nützen.«
Paul drehte sich hastig um und betrachtete mit kritischem Blick einen Mann mit kurzen dunklen Haaren, der soeben das Schlafzimmer betreten hatte.
»Daddy!«, rief Jeanne Louise erleichtert und lief dem Mann entgegen, während Paul nur ungläubig zusah.
Daddy? Der Kerl trug Jeans und T-Shirt und sah nicht älter als vielleicht fünfundzwanzig aus. Aber das traf auch auf Jeanne Louise zu wie auf jeden Unsterblichen, dem er bislang begegnet war. Keiner wirkte älter als fünfundzwanzig, und trotzdem sah der Typ nicht so aus, als könnte er ihr Vater sein, überlegte Paul, kam dann aber schnell zur gegenteiligen Erkenntnis. Der Mann ließ nämlich Jeanne Louise los und warf ihm einen vernichtenden Blick zu, wie es nur ein wütender Vater konnte. »Ist das der Mistkerl, der dich entführt hat, Jeanie?«
»Oh … ähm … nein«, sagte sie rasch und stellte sich zwischen Paul und ihren Vater. Als ihr Vater sie mit einem strengen Blick bedachte, weil sie so dreist gelogen hatte, fuhr sie fort: »Ich wollte sagen, ja, aber nur zu Anfang.
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