Ein Vampir fuer alle Sinne
zu suchen … und alles wäre wie geplant verlaufen, und sie wären eine Familie.
Als ihm auffiel, dass Nicholas mit einem Mal ungewöhnlich ruhig war, sah er den Mann an und stellte fest, dass er in Richtung Zimmertür schaute, als würde er aufmerksam auf etwas lauschen. Minutenlang geschah nichts weiter, dann stand er auf. »Du willst bestimmt Livy sehen.«
»Ja.« Paul drehte sich auf dem Bett zur Seite, stand auf und folgte dem Unsterblichen zur Tür. Er wollte unbedingt zu Jeanne Louise und Livy. Aber als sie beide im Nebenzimmer ankamen, war von Jeanne Louise nichts zu sehen. Da war nur Eshe, die allein neben Livys Bett saß.
Paul zögerte erst, näherte sich dann aber dem Bett und betrachtete Livy. Sie sah gesünder aus als vor dem schrecklichen Unfall und vor allem viel gesünder als noch vor einem Monat. Die Wangen waren voll und rosig, ihr Gesicht ließ keine Anzeichen von Schmerzen erkennen. Er seufzte erleichtert und sah zu Eshe.
»Wo ist Jeanie?«
»Oben«, sagte sie und erhob sich von ihrem Platz. »Nicholas und ich gehen jetzt auch nach oben. Du setzt dich hierhin zu Livy und tauschst den Blutbeutel aus. Ich werde dir zeigen, wie das geht.«
»Jeanne Louise?«
Sie wandte ihren nachdenklichen Blick vom Inhalt des Kühlschranks ab und zog verwundert die Brauen hoch, während sie über den Blutbeutel vor ihrem Mund hinweg ihren Vater ansah. Nachdem sie die ganze Nacht hindurch auf Livy aufgepasst hatte, musste sie unbedingt etwas zu sich nehmen. Blut war ihre erste Wahl gewesen, Essen würde danach folgen. Sie würde Paul auch etwas zu essen bringen, nahm sie sich vor, während sie weiter darauf wartete, dass ihr Vater anfing zu reden. Ganz sicher würde Paul auch hungrig sein, wenn er aufwachte. Und ganz sicher würde er überglücklich sein, dass Livy es so gut wie geschafft hatte.
Noch immer konnte sie es kaum fassen, dass das Mädchen durchgehalten und die Wandlung überstanden hatte. Der Tumor, der Blutverlust, der gebrochene Schädel … Jeanne Louise war so gut wie überzeugt davon gewesen, dass der Körper des Kindes dieser geballten Ladung nichts entgegenzusetzen hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass die Kleine sterben würde, bevor die Wandlung abgeschlossen war.
»Eshe glaubt, dein Blut in der offenen Wunde am Hinterkopf dürfte dem Mädchen das Leben gerettet haben«, sagte Armand, der wohl ihre Gedanken gelesen hatte. Er legte den Kopf schräg und fragte neugierig: »Woher wusstest du das?«
Jeanne Louise zog den leeren Beutel von den Fangzähnen und zuckte flüchtig mit den Schultern. »Ich wusste es nicht. Es kam mir einfach in den Sinn.«
Er zog die Augenbrauen hoch, ließ das Thema aber auf sich beruhen, stattdessen setzte er sich an den Esstisch. »Lucian wird bald eintreffen. Wir müssen noch reden.«
Sie zögerte, da ihr der Sinn eigentlich nicht nach Reden stand. Sie wusste, ihr Vater hasste Paul wegen der Entführung. Die ganze Familie hasste ihn dafür. Und sie waren zweifellos auch noch wütend auf sie selbst, weil sie ihre eine Wandlung so leichtfertig vergeben hatte. Sie war selbst nicht begeistert davon, und ihrer Meinung nach traf Bricker die alleinige Schuld daran.
»Es war ein Unfall«, sagte Armand Argeneau ernst. »Bricker wollte nicht, dass so etwas passiert. Er sagte ja, dass er versucht hat, in den Geist des Mädchens einzudringen, damit es stehen blieb, und dass er dabei auf Widerstand gestoßen sei. Vermutlich der Tumor.«
»Ja, vermutlich«, stimmte sie ihm zu und setzte sich erschöpft zu ihm an den Tisch. Es überraschte sie nicht, dass Justin Schwierigkeiten gehabt hatte, denn für sie selbst war es mit jedem Mal mühseliger geworden, durch die Kopfschmerzen hindurch in den Verstand des Mädchens vorzudringen. Vermutlich war der Tumor von Tag zu Tag größer geworden und hatte immer beharrlicher ihre Bemühungen zu blockieren versucht. Ihr war es noch jedes Mal gelungen, die erste Blockade zu überwinden, aber Justin hatte damit nicht rechnen können. Vermutlich wäre es auch gar nicht möglich gewesen, in der wenigen Zeit, die ihm zur Verfügung gestanden hatte, tief genug in ihren Geist zu gelangen, damit sie noch rechtzeitig stehen blieb.
»Und ich hasse Paul nicht«, redete ihr Vater weiter, womit er bewies, dass er ihre Gedanken gelesen hatte. »Ich habe ihn gelesen, als ich ihn letzte Nacht einschlafen ließ. Er liebt dich. Er wollte dein Lebensgefährte sein. Es ist eine Tragödie, dass das nun nicht mehr möglich ist.«
Jeanne Louise
Weitere Kostenlose Bücher