Ein Vampir für jede Jahreszeit
der Nähe sein.«
Aber insgeheim machte sich Mirabeau doch Gedanken, dass die falsche Abzweigung sie in einen Teil von New York City geführt haben könnte, in dem es möglicherweise keine Hotels gab. Mit dieser Sorge im Hinterkopf führte sie die beiden zu der Leiter zurück, die an die Oberfläche führte. Tiny bot sich an, voranzuklettern und den Gullydeckel zu öffnen, aber Mirabeau winkte ab und machte sich selbst an den Aufstieg. Wahrscheinlich hatten solche Abdeckungen irgendeinen besonderen Verschluss, der verhinderte, dass man die Deckel von oben abnehmen konnte. Und um ihn zu lösen, brauchte man bestimmt ein wenig Muskelkraft. Tiny hatte sehr viele Muskeln … für einen Sterblichen. Doch sie war noch stärker als er.
»Kannst du erkennen, wo wir sind?«, erkundigte sich Tiny von unten, nachdem sie es geschafft hatte, den Kanaldeckel zu öffnen und sich ein Stück aus dem Gullyloch geschoben hatte.
Mirabeau schaute sich konzentriert um. Zwar waren sie an einer Straßenecke herausgekommen, doch ein Van verstellte ihr die Sicht auf die Straßenschilder.
»Wo sind wir?«, fragte auch Stephanie ungeduldig.
»Ich bin nicht sicher, aber auf der anderen Straßenseite steht ein Hotel.« Der Fahrer des Vans lud gerade Kisten aus, die offenbar Essen und frisches Gemüse enthielten. Wahrscheinlich fiel es nachts leichter, Waren anzuliefern, wenn die Straßen nicht so verstopft waren. Sie spähte nach dem Duo, das am Fuß der Leiter wartete: »Kommt. Wir checken erst mal im Hotel ein und finden dann heraus, wo wir sind.«
Bevor sie ausgesprochen hatte, war Stephanie schon halb die Leiter hinaufgeklettert. Mirabeau grinste, schob den Kanaldeckel beiseite und kroch schnell aus dem Loch, bevor Stephanie sie noch überrannte. Tiny kam als Letzter und half Mirabeau, den Deckel wieder an seinen angestammten Platz zu schieben. Dann eilten sie auf den Gehweg zu. Zwar herrschte um diese Uhrzeit kein dichter Verkehr in New York, doch das eine oder andere Auto fuhr eben doch und sie hatten Glück gehabt, dass keines vorbeigekommen war, während sie aus dem Kanal gelugt hatten. Sie hatten kaum den Randstein erreicht, als auch schon ein Taxi vorbeiraste.
»Vielleicht solltet ihr Mädels lieber hier warten und mich das Zimmer mieten lassen«, schlug Tiny vor und schob die beiden auf den Bürgersteig.
Mirabeau schüttelte augenblicklich den Kopf. » Ich besorge uns die Zimmer. Wenn jemandem aufgefallen ist, dass du von der Hochzeit verschwunden bist, dann vermuten sie sicher auch schon, dass du bei Stephanie bist und verfolgen deine Kreditkartentransaktionen.«
»Dasselbe gilt doch auch für dich«, entgegnete Tiny stirnrunzelnd.
»Schon, aber ich muss keine Kreditkarte benutzen«, gab sie zu bedenken und spazierte auf das Hotel zu.
»Moment noch«, rief Tiny und hielt sie am Arm fest. »Das ist vielleicht keine so gute Idee. In eurem Zustand seid ihr beide sehr auffällig, und falls jemand herumschnüffeln und Fragen stellen sollte …«
»Werden im Gedächtnis der Menschen keine Spuren von uns zu finden sein«, vollendete sie den Satz für ihn.
Tiny sah sie kurz prüfend an und nickte dann. Stephanie atmete erleichtert auf. Die Kleine hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn obwohl sie die Kanäle verlassen hatten, hing Mirabeau der brackige Gestank erbarmungslos in der Nase. Sie würde diesen Geruch, der so klebrig an ihnen haftete, loswerden, und wenn es das Letzte wäre, was sie tat. Nichts und niemand konnte sie davon abbringen, im Hotel einen Zwischenstopp einzulegen.
Mirabeau drehte sich um und führte die kleine Gruppe zum Eingang des Hotels. Als der Portier auf sie zukam, zweifellos, um ihnen den Zutritt zu verwehren, drang sie schnell in seine Gedanken ein. Seine Miene wurde sofort ausdruckslos und der Blick schweifte in eine andere Richtung. Dann begutachtete sie die Personen, die sich in der Lobby aufhielten. Zum Glück war um diese Uhrzeit kaum jemand anwesend. Auf einem der Sofas saß ein Herr und las Zeitung. Bei ihrem Eintreten hob er den Kopf, senkte ihn jedoch augenblicklich wieder, als Mirabeau seinen Geist berührte. Solange sie sich in der Lobby aufhielten, würde er den Kopf unten behalten. An der Rezeption erwartete sie eine junge, aufgetakelte, blonde Empfangsdame. Ihr verschlafener Gesichtsausdruck verwandelte sich beim Anblick des Trios in Schrecken, doch Mirabeau drang schnell in ihren Kopf ein und sorgte dafür, dass die alte Schläfrigkeit wieder zurückkehrte. Die Rezeptionistin
Weitere Kostenlose Bücher