Ein Vampir und Gentleman: Argeneau Vampir 7
verstehen wollte.
Nach längerem Schweigen sagte er: „Da du nicht ausgebildet worden bist, weißt du wahrscheinlich auch nicht, wie man Gedanken liest, richtig?”
„Bin ich denn überhaupt dazu in der Lage?”
„Ja, das ist eine der zusätzlichen Fähigkeiten, die die Nanos uns verleihen. Dir sollte eigentlich aufgefallen sein, dass du intuitiver reagierst als früher, oder?”
„Sehr sogar”, bestätigte sie. Elvi hatte festgestellt, wie ungewöhnlich gut sie die Gefühle anderer Menschen wahrnehmen konnte.
Er nickte. „Dann besitzt du die Fähigkeiten und musst lediglich darin unterwiesen werden.”
„Ich weiß nicht, ob ich das möchte”, überlegte sie. „Ich habe das Gefühl, dass ich damit die Privatsphäre der anderen verletzen würde.”
„Du musst lernen, mit dieser Fähigkeit umzugehen, damit du verhindern kannst, sie ungewollt anzuwenden”, betonte Victor mit verwirrender Logik, die Elvi nur ratlos dreinblicken ließ.
„Was?”
Er sah sie an. „Leidest du oft unter Kopfschmerzen?”
„Ja”, bestätigte sie überrascht. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, denn Kopfschmerzen waren auch vor ihrer Wandlung schon aufgetreten, und sie nahm an, dass die einfach weiter anhielten. Jetzt aber dachte sie genauer darüber nach, und dabei wurde ein Muster deutlich. „Die Kopfschmerzen setzen ein, wenn ich ins Restaurant oder zu irgendeiner Veranstaltung in der Stadt gehe. Wenn ich allein zu Hause bin, merke ich davon nur wenig.”
„Und trotzdem gehst du ins Restaurant und zu diesen Veranstaltungen”, kommentierte Victor leise.
Sie zuckte mit den Schultern. „Das wird von mir erwartet.”
Einen Moment lang schaute er sie an, als wolle er etwas ganz anderes sagen, doch dann wandte er den Blick von ihr ab. „Diese Kopfschmerzen hängen damit zusammen, dass du die Gedanken all dieser Leute um dich herum empfängst. Im Restaurant beispielsweise werden sie stärker, weil sich die Leute dann in deiner unmittelbaren Umgebung aufhalten.”
„Ich bin mir sicher, ich empfange keine Gedanken”, widersprach sie. „Mein Kopf schmerzt, aber da sind keine fremden Gedanken.”
„Das liegt daran, dass es so viele sind”, machte er ihr klar. „Du bist nicht darin geübt, dich zu konzentrieren, deswegen nimmst du von allen Anwesenden gleichzeitig wahr, was sie denken, und in der Summe ergibt das dann ein statisches Bauschen wie im Radio oder im Fernsehen. Deshalb hast du auch so starke Kopfschmerzen, wenn du unter Leuten bist. Sobald du gelernt hast, damit umzugehen, wird es besser werden, aber immer noch anstrengend sein. Du musst ständig auf der Hut sein, fremde Gedanken abblocken und deine eigenen schützen. Das ist ermüdend. Die meisten Unsterblichen ziehen sich genau deswegen aus der Gesellschaft zurück, aber dadurch sind wir auch ständig allein. Ein Lebensgefährte macht diese Einsamkeit erträglicher. In dessen Gegenwart muss man nicht auf seine Gedanken aufpassen oder die Gedanken des anderen abblocken. Der Lebensgefährte wird zum einzigen sicheren Zufluchtsort, er ist wie eine kühlende Brise an einem heißen Tag.”
„Und Marion war genau das für dich”, folgerte Elvi.
„Ja. Das und noch viel mehr”, gab er zu. „Als sie starb, da fühlte ich mich zuerst verloren. Ich wollte niemanden sehen, nichts tun, nirgendwo hingehen. Ich wollte mich nur zusammenrollen und meine Wunden lecken.” Plötzlich begann er zu lächeln und erklärte: „Es war mein nervtötender Bruder Lucian, der mich aus diesem Tief herausholte. Er zerrte mich gegen meinen Willen zurück in die wahre Welt und gab mir eine Aufgabe.”
„Was für eine Aufgabe?”
Nach kurzem Zögern antwortete er: „Als Vollstrecker für den Rat.”
„Was ist ein Vollstrecker?”
„Wir jagen abtrünnige Unsterbliche. Diejenigen, die gegen unsere Gesetze verstoßen.”
Elvi nickte nachdenklich. „Und wie hat er dich dazu gebracht? Ich glaube kaum, dass es etwas gebracht hätte, dich höflich zu fragen.”
„Stimmt”, bestätigte er lachend. „Lucian kam eines Tages mit einem Familienporträt zu mir nach Hause. Mit dem riesigen Gemälde einer Familie - eine hübsche Frau, ein lächelnder Mann, zwei glückliche Kinder. Das Gemälde brachte mich sofort in Rage, weil meine eigene Familie zerrissen worden war. Dann holte Lucian seinen Dolch hervor und schnitt die Frau aus dem Bild, und während ich schockiert dasaß, erklärte er mir, dass die Frau von einem Abtrünnigen getötet worden sei. Ihre Familie war so am
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