Ein verführerischer Akt
wenn wir uns mit dem Dialekt bemühen, wird man es uns nicht wirklich abnehmen und misstrauisch werden.« Er nahm ihre Hand und strich mit seinem Daumen über ihre zarte Handinnenfläche. »Sie sehen nicht aus, als hätten Sie auch nur einen einzigen Tag in Ihrem Leben gearbeitet.«
»Dann sagen wir eben, mein Mann würde mich verwöhnen«, erwiderte sie und hob das Kinn, musste grinsen. »Zumindest werde ich das allen erzählen. Gibt es irgendwelche Dinge aus unserem Leben, die wir uns merken müssen? Wer sind wir? Von wo kommen wir und wo wollen wir hin?«
»Ich habe schon ein bisschen darüber nachgedacht. Erlauben Sie mir aber, dass ich mich erst einmal umziehe, während Sie mit Ihrem klugen Köpfchen ebenfalls ein paar Überlegungen anstellen.«
Er bat sie zwar nicht, sich zum Fenster umzudrehen, doch sie tat es trotzdem und betrachtete das zu einem schmalen Fluss sanft abfallende Gelände. Ihre Gedanken beschäftigten sich allerdings mehr mit dem, was hinter ihr passierte. Sie lauschte auf das Rascheln seiner Kleidung, und heiße Verlegenheit und gleichermaßen Neugier auf seinen Körper stiegen in ihr auf.
Schließlich rief er ihren Namen, und sie drehte sich um. Aus Lord Parkhurst war ein kräftiger Mann in Arbeitskleidung und mit unrasiertem Gesicht geworden, dessen tief in die Stirn gezogene Mütze seine Gesichtszüge weitgehend verbarg. Es schien fast, als habe der Kleiderwechsel eine primitivere Seite seines Wesens zum Vorschein gebracht. Er trug eine dicke Hose und schwere Stiefel, eine schlichte Weste, eine Jacke und ein Hemd mit offenem Kragen.
»Ach du meine Güte«, murmelte sie.
»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte er mit einer zu seinem Aufzug völlig unpassenden Stimme.
Sie lachte leise. »Nein, natürlich nicht, aber es ist Ihnen in wirklich bewundernswerter Weise gelungen, Ihre Erscheinung zu verändern. Keiner würde je auf den Gedanken kommen, dass Sie dem Hochadel angehören.«
»Sehr schön. Dann packen wir jetzt die Sachen, die wir mitnehmen wollen, in die Tasche. Nein, nicht Ihren Umhang«, sagte er. »Der ist zu fein, den können wir nicht mehr gebrauchen. Legen Sie stattdessen das wollene Tuch um.«
Sie runzelte die Stirn. »Der Umhang hat mich in der Nacht warm gehalten.«
»Ich glaube eigentlich nicht, dass Ihnen kalt war«, erwiderte er.
Sie sahen einander einen Moment lang an und erinnerten sich an die Körperwärme, die sie geteilt hatten.
Er wandte als Erster den Blick ab, und sie akzeptierte, dass er ihr auswich. Seit sie die Geschichte des verschwundenen Diamanten kannte, begriff sie seinen Ehrgeiz, nach zehn Jahren endlich alles aufzuklären und den toten Vater von unehrenhaften Verdächtigungen reinzuwaschen.
»Meine Mutter ließ immer ein Feuer in meinem Zimmer brennen, sogar im Hochsommer. Sie und der Arzt waren der Meinung, ich könnte mich sonst verkühlen.«
»Oder sollte dadurch jedwede Krankheit ausgeschwitzt werden?«
»Das auch. Aber es war immer erstickend warm. Manchmal gerate ich seitdem in leichte Panik, wenn es in einem Raum zu warm wird.«
»Schlechte Erinnerungen«, meinte er. »Von denen löst man sich am besten.«
»Das versuche ich, indem ich Neues erleben will.« Sie musterte die Kleidungsstücke, die auf dem Bett lagen. »Ich habe dem Mädchen gesagt, dass es unsere Hinterlassenschaften, nachdem sie gesäubert wurden, verkaufen kann. Halten Sie das für gefährlich? Immerhin erkennt man trotz des Schmutzes, dass es sich um teure Sachen handelt.«
»Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir können nichts mitschleppen, was für uns nutzlos ist.«
»Und wenn wir so tun, als wären wir junge Adlige, die auf ein Abenteuer aus sind?« Grinsend hob sie eine Hand. »Ich weiß, ich weiß, das ist zu dicht an der Wahrheit.«
»Wohl kaum.«
»Zu dicht an meiner Wahrheit.«
Er musterte sie neugierig. »Alles ist ein Abenteuer für Sie, nicht wahr?«
»Nein, nicht alles.« Sie hob das Kinn. »Doch warum soll ich mich nicht amüsieren, obwohl die Situation vielleicht gefährlich ist? Schließlich tue ich gerade etwas, wonach ich mich schon immer gesehnt habe.«
»Es war also Ihr heimlicher Wunsch, vor Verbrechern davonzulaufen?«, fragte er mit leichtem Sarkasmus.
»Ich lebe, Julian«, erwiderte sie voller Ernst. »Ich lebe, lerne und sehe etwas von der Welt, auch wenn es nur die Industriegebiete im Herzen Englands sind. Das fasziniert mich ebenfalls. Ich bin noch nie in Manchester gewesen.« Sie setzte sich an den Tisch und klopfte auf den anderen
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