Ein verführerischer Akt
Schritt. Er stellte fest, dass ihre Bewegungen von einer natürlichen Anmut waren. Nach einer Weile wurde ihr warm, und sie ließ ihr schwarzes Tuch von den Schultern bis in die Ellbogen rutschen.
»Warum durften Sie denn nicht in einer offenen Kutsche fahren?«, griff er ihre Bemerkung von vorher auf.
»Ich habe es bestimmt schon erwähnt«, erwiderte sie und warf ihm einen unbekümmerten Blick zu. »Wegen der Krankheiten.«
»Wegen der Krankheiten? Was hat das damit zu tun?«
»Ich war, wie gesagt, häufig krank … sehr schwer krank. Jetzt sehe ich gesund aus, doch das war nicht immer so. Ich konnte von Glück sagen, wenn man mir überhaupt einmal erlaubte, das Haus zu verlassen, so häufig holte ich mir alle möglichen Infekte. Bronchitis war eine Spezialität von mir«, erklärte sie trocken. »Um dagegen anzugehen, taten meine Eltern alles, was die Ärzte ihnen sagten, und dazu gehörte, mir Ausfahrten in offenen Kutschen zu verbieten. Und nachts musste ich immer mit einem Schal um Hals und Schultern schlafen, damit ich keinen Zug bekam. Sie haben sicher noch nie jemanden so dick eingepackt einen stickigen Ballraum verlassen sehen wie mich, sogar noch seit ich längst nicht mehr so anfällig bin. Ich kann nicht einmal reiten.«
Er war verblüfft. »Dann muss es schwer für Sie gewesen sein, auf dem Land zu leben.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich war daran gewöhnt. Susanna und ich sind sieben Jahre auseinander, und als sie reiten lernte, war ich noch ein Baby. Später ließ mein Bruder mich ab und zu hinter sich auf dem Pferd sitzen, wenn unsere Eltern es nicht sahen, aber das passierte nicht allzu häufig. Man passte viel zu gut auf mich auf; erst meine Mutter, dann meine Nanny und später unsere Gouvernante.«
»Sie wirken erstaunlich unberührt durch diese Einschränkungen in Ihrer Kindheit«, meinte er nachdenklich. »Allerdings wird mir dadurch Ihre Sehnsucht nach Abenteuern verständlicher.«
Sie lächelte und sah ihn unter der Krempe ihrer Haube hervor an. »Ihre Kindheit hat bestimmt auch Spuren bei Ihnen hinterlassen.«
»Wenn das so sein sollte, weiß ich nicht in welcher Hinsicht.« Er schaute zum Fuhrwerk, das mittlerweile ein Stück voraus war. »Sie sind bestimmt müde. Vielleicht sollten wir …«
»Na, wenn das kein Ablenkungsmanöver ist. Sie wollen nicht darüber reden.«
»Worüber?«
»Ihre Kindheit. Sie erwähnten, dass Sie viel Zeit mit den Dienstboten verbrachten, und damit meinten Sie bestimmt nicht Ihren Lehrer. Na los, Mr Bacon, enthüllen Sie Ihrer Frau Ihre Geheimnisse.« Sie hakte sich bei ihm ein, während sie weitergingen.
»Ich habe keine Geheimnisse«, erklärte er ruhig. Was nicht stimmte, denn er hatte nicht alles erzählt, was im Zusammenhang mit dem gestohlenen Diamanten passiert war. Er sah keine Veranlassung, persönliche Dinge preiszugeben.
»Dann waren Sie also ein ganz normaler, kleiner zukünftiger Earl, der all das tat, was seine Standesgenossen für gewöhnlich so zu tun pflegen.«
»Nicht ganz. Ich ging mit den Dorfkindern in die Schule.« Warum war ihm gerade das entschlüpft?
Sie machte ein neugieriges Gesicht. »Tatsächlich? Nicht Eton oder Harrow?«
»Ich fing in Eton an, aber dann konnte mein Vater das Schulgeld nicht mehr bezahlen.«
Ihr Lächeln schwand. »Ach du meine Güte. Das tut mir leid.«
»Nicht nötig.«
»Ich bemitleide nicht Sie, sondern Ihre Eltern, die Ihnen nicht das geben konnten, was Ihnen eigentlich zustand. Haben Sie zumindest ein ganzes Jahr in Eton verbracht?«
»Nein, ein Semester.«
»Sie fuhren also in den Ferien nach Hause und konnten dann nicht wieder zurück. Wie schrecklich für Ihren Vater, Ihnen das mitteilen zu müssen.« Als er nichts sagte, bohrte sie weiter. »Nun sagen Sie schon, Mr Bacon. Keine Geheimnisse zwischen Mann und Frau.«
»Mein Vater setzte mich nicht darüber in Kenntnis. Ich erfuhr es von der Schule, bevor die Ferien anfingen.« Wie schaffte sie es bloß, ihn dazu zu bringen, über Dinge zu sprechen, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte?
Als sie sprach, überraschte ihn die Wut, die in ihrer Stimme mitschwang.
»Das war nicht in Ordnung«, erklärte sie. »Ihr Vater hätte Sie warnen sollen – bestimmt wusste er doch, dass die Dinge nicht gut standen.«
»Mein Vater war sehr geschickt darin, Dinge zu ignorieren, die sich direkt vor seiner Nase abspielten.«
»Und Ihre Mutter?«
Er runzelte die Stirn, erwiderte jedoch nichts.
»Wusste sie überhaupt von der angespannten
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