Ein verführerischer Akt
dass sich jemand aus der nächsten Generation ebenfalls in Schwierigkeiten bringt.« Sie musterte ihn mit heiterem Misstrauen. »Sag nur, du weißt nicht, worauf ich anspiele.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und beschloss, ihr nicht zu verraten, dass er zwischenzeitlich so einige Nachforschungen angestellt hatte und dementsprechend einigermaßen im Bilde war. Er wollte lieber abwarten, was sie von sich aus preisgab. »Ich weiß von deinem Bruder, der verschollen war und bereits als tot galt und dann zurückkam, eine ziemlich faszinierende Angelegenheit.«
»Ach, glaub mir, das war nichts im Vergleich zu den Skandalen, die wir ansonsten zu bieten haben. Aber immerhin die einzig erfreuliche Geschichte und beinahe ein Wunder.«
»Versuchst du mir etwa zu sagen, dass du mit meinem Familienskandal mithalten könntest?«, fragte er mit gespieltem Erstaunen. »Wir reden hier schließlich über einen gestohlenen Diamanten von unschätzbarem Wert und über einen verbrecherischen Onkel …«
»Du hast also nicht davon gehört, dass mein Vater in eine Grabschändung verwickelt war?«, unterbrach sie ihn.
Er sah sie fragend an.
Sie lächelte. »Er ist, wie du weißt, Professor der Anatomie und braucht für seine Arbeit Leichen. Meistens bekommt er ganz legal tote Gefangene, Obdachlose, Leute ohne Angehörige … Natürlich hat er Mitarbeiter, die sich um Beschaffung und Transport kümmern, und als er denen einmal den Auftrag gab, ihm eine tote Frau zu bringen, haben sie – weil offiziell nichts ging – ein Grab geöffnet. Er wusste nichts davon, geriet aber trotzdem unter Verdacht.«
»Das muss hart gewesen sein.«
»Es passierte vor meiner Geburt, belastete aber über Jahre die Ehe meiner Eltern. Meine Mutter fühlte sich tief gedemütigt. Doch das war nur die eine Seite der Skandale. Für die anderen sorgten die Cabots beziehungsweise die Dukes of Madingley. Der Bruder meiner Mutter, der vorige Titelträger, machte ein einfaches spanisches Mädchen zur Duchess.«
»Das habe ich gewusst.«
»Und der jetzige, mein Cousin, heiratete eine Journalistin, die sich unter falschem Namen an ihn heranmachte. Ein anderer Cousin spielte mit einer Lady Karten, wobei der Preis ihre Tochter war, und eine Tante stand unter dem Verdacht, ihren Ehemann ermordet zu haben, weil sie sich die Rechte und Tantiemen für seine Kompositionen sichern wollte. Verrückt, was? Und mein Großvater …«
»Genug! Ich kann es nicht fassen. Aber ich muss zugeben, dass deine Familie der meinen in puncto Skandale weit voraus ist. Allein die Tatsache, mit dir zu reden, könnte ja schon meinem Ruf schaden.«
Sie lachte. »Du wurdest von fast allen Ladys dabei beobachtet, wie du mit mir geflirtet hast.« Sie verdrehte die Augen. »Und wenn die wüssten, was wir seitdem getan haben …«
Er schenkte ihr ein träges, sinnliches Lächeln, und sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, was seinen Blick wie magisch anzog.
»Siehst du, Julian«, sagte sie, »obwohl es in meiner Familie Skandale im Überfluss gab, ging das an mir alles vorbei – weil ich immer krank im Bett lag. Ich konnte daran nicht mehr Anteil nehmen, als hätte ich es in einem Buch gelesen.«
»Und jetzt erlebst du endlich dein eigenes Abenteuer. Bestimmt wirst du dich, wenn ihr Mädchen euch dereinst an eure ausschweifende Jugend erinnert, nicht vor den anderen verstecken müssen.« Er legte den Kopf zur Seite. »Wirst du ihnen eines Tages alles über das Gemälde erzählen?«
Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht, und sie richtete sich auf. »Das wäre wohl ein bisschen zu viel des Guten, findest du nicht?«
»Deine Familie scheint nichts gegen Künstler zu haben. Da ist zum einen deine Schwester, die anatomische Skizzen anfertigt, und hast du nicht gerade einen Onkel erwähnt, der komponiert hat?«
»Ich habe noch einen weiteren Cousin, der Violine spielt. Aber keiner hat sich jemals für ein Bild ausgezogen.« Sie steckte sich die letzten Krumen des Erdbeertörtchens in den Mund und seufzte. »Ach, Julian, das war einfach köstlich. Ich danke dir so sehr.«
Sie schwiegen einen Moment und lauschten den Geräuschen, wie sie zu viele Menschen auf engem Raum mit sich bringen. Man hörte Kinder weinen und Erwachsene miteinander streiten. Schließlich konnten sie das Schlafengehen nicht länger aufschieben, standen auf und gingen ins Gebäude, wo die Gerüche und Geräusche einen nahezu unerträglichen Angriff auf ihre Sinne darstellten.
»Morgen
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