Ein verführerischer Schuft
aufzuhalten, was sich mittlerweile wie eine Flutwelle anfühlte.
Adriana warf ihren Hut auf die Fensterbank, nahm die Tasse Tee, die ihre Schwester eingeschenkt hatte, und reichte sie Geoffrey, der auf dem zweiten Lehnstuhl Platz genommen hatte. Dann setzte sie sich neben Alicia aufs Sofa. Sie ergriff die Tasse, die sie ihr hinhielt, und schaute zu Geoffrey. Harry und Matthew servierten ihm gerade Teekuchen und Marmelade.
Alicia folgte ihrem Blick; es fiel ihr ebenfalls auf. Obwohl ihre Brüder Teekuchen nun einmal innig liebten, teilten sie bereitwillig mit Geoffrey. Sie hatten ihn zwar vielleicht nicht mit derselben Selbstverständlichkeit akzeptiert, wie es bei Tony der Fall war, aber sie rechneten ihn eindeutig zu ihrem kleinen Kreis und vertrauten ihm.
Lächelnd wandte sich Adriana zu ihr um.
»Geoffrey hat mir von Tonys Idee erzählt, dass wir in die Upper Brook Street übersiedeln.« Sie trank einen Schluck, dann sah sie Alicia in die Augen.
»Es klingt nach einem ausgezeichneten Vorschlag …« Ihre Stimme erstarb; Alicias mangelnde Begeisterung entging ihr nicht.
»Oder etwa nicht?«
Alicia schaute zu Tony. Er erwiderte ihren Blick fest, wich keinen Zoll. Sie sah zu Geoffrey, aber der war - nicht ganz unbeabsichtigt, da war sie sich sicher - tief in eine Diskussion mit ihren Brüdern über die Vorzüge von Brombeermarmelade versunken.
Langsam atmete sie ein, dann richtete sie ihren Blick auf Adriana.
»Ich weiß es nicht.« Und das war nichts als die reine Wahrheit.
»Nun …«
Adriana versuchte sie erneut zu überreden; ihre Argumente klangen ähnlich wie die Tonys, unterschieden sich aber trotzdem so weit, dass Alicia erkannte, er hatte nicht den Fehler begangen, sich mit ihrer Schwester gegen sie zu verbünden.
Er wusste, dass ihr der Gedanke gekommen war; als sie ihn anschaute, als sie merkte, dass dieser Verdacht unbegründet war, hob er bloß eine Augenbraue. Dann trank er einen Schluck Tee - und überließ es ihr, gegen jeden im Zimmer ihr Rückzugsgefecht zu führen.
Ihre Brüder bedrängten sie nicht offen, sie bekräftigten und unterstützten viel mehr Adrianas Argumente. Und dann schaltete sich Geoffrey ruhig und ernst - und daher wesentlich gewichtiger - ein, stellte sich auf Tonys und Adrianas Seite.
Als sie in seine aufrichtigen braunen Augen schaute, spürte Alicia ihren Widerstand bröckeln. Sie konnte begreifen, weshalb Geoffrey Adriana und den Rest ihrer Familie unter Tonys Dach wissen wollte. Sie schaute Tony an und wusste, dass derselbe Punkt großen Raum bei seinen Beweggründen einnahm. Verhielt sie sich unvernünftig, indem sie ihre Zustimmung verweigerte?
Sie brauchte weitere Bestätigung, aber nicht von den hier Versammelten …
Die Türglocke läutete. Sie sah zur Uhr - die Zeit war wie im Fluge vergangen. Sie hörte Frauenstimmen in der Diele und erhob sich. Sie zog an der Klingelschnur, um Jenkins zu rufen, und sagte ihren Brüdern, sie dürften ihre Teekuchen noch aufessen, ehe sie zu ihrem Unterricht zurückkehren müssten.
Damit ging sie zur Tür, gefolgt von Adriana. Tony und Geoffrey waren hinter ihnen.
»Ach - da sind Sie ja, Alicia!« In der kleinen Halle stand eine sichtlich erfreute Kit Hendon.
Neben ihr lächelte Leonora Wemyss.
»Ich hoffe, wir sprechen nicht zu einer ungünstigen Stunde vor, aber es gibt da ein Treffen bei Lady Mott, das wir keinesfalls versäumen sollten. Außerdem möchten wir uns abstimmen, welche Gesellschaften wir heute Abend besuchen.«
Alicia lächelte, reichte ihnen die Hand und wartete, bis alle einander begrüßt hatten, dann führte sie die beiden Besucherinnen in den Empfangssalon. Als alle Platz genommen hatten, fiel ihr auf, dass weder Kit noch Leonora irgendwie überrascht schienen, hier Tony und Geoffrey anzutreffen.
Mitten am Nachmittag war keine Stunde, zu der Herrenbesuch üblich war.
Leonora stürzte sich sogleich in eine Erörterung der vielversprechendsten Gesellschaften, die für den Abend geplant waren.
»Ich glaube, Lady Humphries Einladung, dann der Ball bei den Canthorpes und im Anschluss der der Hemmingses. Was meinen Sie?«
Sie erwogen und verwarfen die verschiedenen Möglichkeiten, ersetzten schließlich den Ball bei den Hemmingses durch den der Athelstans.
»Die verfügen über wesentlich bessere Beziehungen«, erklärte Tony, »und das ist am Ende einer langen Nacht hilfreich.«
»Ja.« Leonora nickte zustimmend, wirkte aber leicht abgelenkt, als zöge sie eine Liste zu Rate, die sie sich im
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