Ein verführerischer Schuft
ihre Überraschung verwunden hatte; Mrs. Swithins schien es von ihr zu erwarten.
Von dem Augenblick an wandten sich die Diener offen an sie. Von der Minute an wurde sie in jeder Hinsicht bis auf den formalen Akt die Dame des Hauses.
Tonys Frau.
Es war eine Stellung, die einzunehmen sie nie gedacht hätte; und jetzt füllte sie sie aus. Schlimm genug. Die damit zusammenhängende Entwicklung, die die Situation in eine zutiefst verstörende, beunruhigende Erfahrung verwandelte, war etwas, was sie nicht nur nicht vorausgesehen hatte, sondern von dem sie zudem nie zu träumen gewagt hatte.
Am vierten Tage traf die Wahrheit sie dann wie ein Schlag.
Seit sie in sein Haus eingezogen war, verließ Tony ihr Bett immer nur Minuten, bevor ihre Kammerzofe hereinkam. An diesem Morgen stand sie kurz auf, war aber furchtbar müde. Die ersten Wochen der Saison waren vollgestopft mit Unterhaltungen, Gesellschaften am Morgen, Mittag und Abend; sie, Adriana und Miranda waren am Tag zuvor bei sechs verschiedenen Einladungen gewesen.
Als Bertha erschien, ging sie wieder ins Bett und ließ das Mädchen das Abendkleid vom Vorabend wegräumen.
»Wir haben um zwei Uhr heute ein Mittagessen - dazu stehe ich auf, aber jetzt möchte ich mich lieber noch ausruhen. Bitte sagen Sie Mrs. Althorpe und meiner Schwester, dass ich ausschlafen will.« Wenn sie auch nur einen Funken Vernunft hatten, würden sie es ebenso halten wie sie.
Bertha murmelte etwas Mitfühlendes, räumte rasch und möglichst leise auf, fragte dann noch flüsternd, ob sie irgendetwas benötige, was Alicia verneinte, und schlüpfte aus dem Zimmer.
Alicia war endlich allein; sie kuschelte sich unter die Decke, schloss die Augen und rechnete fest damit, sofort einzuschlafen, schließlich gab es nichts Wichtiges zu erledigen, nichts, weswegen sie sich Sorgen machen musste.
Ihr Verstand war klar, befreit … Und mit einem Mal war die Wahrheit da, jäh entblößt, felsenfest und unumstößlich. Unentrinnbar und unleugbar.
Die Rolle der Hausherrin in Torrington House war das, was sie sich wünschte, das, wonach ihr Herz sich sehnte.
Die Erkenntnis erschütterte sie.
Sie legte sich zurück, starrte in den Seidenhimmel empor und versuchte es zu verstehen. Sich selbst. Wie, warum … wann hatte sie sich geändert?
Die Antworten dämmerten ihr nach und nach. Sie hatte sich gar nicht verändert, sie hatte sich nur nie zuvor erlaubt, darüber nachzudenken, was sie wollte, was sie sich vom Leben erhoffte. Sie hatte ihr Leben damit verbracht, das Leben anderer zu organisieren und es sich absichtlich nicht gestattet, an sich selbst zu denken. Das war natürlich wissentlicher Selbstbetrug; sie wusste, warum sie es getan hatte - so war es leichter gewesen. Der Schmerz, die eigenen Träume zu opfern … Man musste sich dieser niederschmetternden Erfahrung nicht stellen, wenn man sich nicht gestattete zu träumen.
Sie schaute zurück auf ihre jüngste Vergangenheit, in der sie die Entscheidung getroffen hatte … Sie hatte es getan, um ihr Herz gegen die harte Realität zu schützen, die sie in ihrer relativen Naivität nicht vorausgesehen hatte. Aber sie war nicht länger dieses naive junge Mädchen, verängstigt und allein, auf der Schwelle zur Frau, gebeugt unter der Last von Pflichten und Sorgen.
Also hatte sie sich weniger verändert, sondern war eher erwachsen geworden. Jetzt war sie erfahren, selbstsicher. Ihre Rolle beim Formulieren und erfolgreich Umsetzen des Plans und all dessen, was ihre Beziehung zu Tony bewirkt hatte, hatte ihr die Augen geöffnet, nicht nur für das, was sein könnte, sondern auch dafür, wie sie werden konnte, welche Möglichkeiten in ihr ruhten. Ihre eigenen Stärken, ihr Wille und ihre Fähigkeiten.
Unter all dem lag der feste Glaube, die Überzeugung, dass sie ein Recht habe auf ihr eigenes Leben - und die ruhige Entschlossenheit, die sie bislang nicht wahrgenommen hatte, sich zu nehmen, was sie wollte.
Die Rolle als Tonys Frau, die sie bis auf den Namen bereits ausfüllte, war genau das, was sie sich wünschte - sie passte ihr sozusagen wie angegossen. Sie fühlte sich irgendwie richtig an, stillte ein tiefes Sehnen in ihr, einen bislang unbekannten, aber wesentlichen Teil ihres Wesens.
Das war es, was sie wollte.
Ihr stockte der Atem. Eine Schlinge legte sich um ihr Herz, aber ihre Entschlossenheit wankte nicht.
Sie war seine Mätresse, nicht seine Frau.
Er hatte gesagt, dass er sie liebte. Ihr Französisch war nicht sonderlich gut - sie
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