Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
hatte sie am frühen Abend aus der Speisekammer genommen, weil sie mit etwas Ähnlichem gerechnet hatte. Was sie allerdings nicht erwartete hatte: dass Thorold einen Wachhund
in
seinem Büroraum hielt.
Das Tier schnupperte einmal, dann stürzte es herbei. Mary spürte den Schwall des heißen Hundeatems und eine kühle Schnauze. Dann zog sich der Hund mit seiner Beute zurück und verschlang sie gierig.
Mary glitt in das Büro, schloss die Tür und sank schlaff vor Erleichterung zusammen. Ihr Rücken war feucht vor Schweiß, und als der Hund zurückkam, um neugierig an der am Boden hockenden Gestalt zu schnuppern, musste sie an sich halten, um nicht laut zu lachen.
Sie strich ein Streichholz an und entzündete eine Kerze. Mädchen und Hund sahen sich neugierig an. Der Hund war ein kräftiger schwarzer Mischling mit kurzem Fell, großen Schlappohren und einem wachen Blick. Keineswegs die übliche Art von Wachhund, aber sein seltsames Aussehen gefiel ihr.
»Was macht ein Mann wie Thorold denn mit so einem netten Hund?«, murmelte sie.
Der Hund deutete ein Schwanzwedeln an.
Sie verbrachten ein paar Minuten damit, sich kennenzulernen, dann schob Mary ihren neuen Freund beiseite. Die Uhr auf Thorolds Kaminsims zeigte fünfundzwanzig Minuten nach ein Uhr. »Du musst mich jetzt leider entschuldigen«, sagte sie bedauerndund verschloss die Bürotür. »Ich habe eine Menge Arbeit vor mir.«
Thorolds Büro im Geschäftshaus war dem Arbeitszimmer daheim ziemlich ähnlich – es lagen keine Unterlagen herum und es gab eine Menge Aktenschränke. Wahrscheinlich keine obszönen Bücher, obwohl man da nie sicher sein konnte. Die Vorgehensweise war ganz einfach: die Akten durchgehen, ab und an kontrollieren, ob sie korrekt etikettiert waren, und sie wieder an ihren Platz zurückstellen. Die Arbeit ging auch schnell voran, weil die Akten mit sauberer Handschrift beschriftet waren.
Während die Viertel- und halben Stunden jedoch dahinglitten, wurde Mary immer ungehaltener. Sie hatte natürlich nicht erwartet, in der erstbesten Akte gleich belastendes Material zu finden. Doch diese Akten waren alle säuberlich durchnummeriert und mit Laufzetteln versehen. Es gab kein Zeichen für hastig notierte, eher provisorische Schriftstücke, die sie mit illegalem Handel in Verbindung brachte. Aber was wusste sie schon? Vielleicht gab es ja überhaupt kein schriftliches Beweismaterial. Was dann?
»Was mache ich hier eigentlich, Hund?«, fragte sie kleinlaut. »Ich könnte meine Nächte wochenlang hier zubringen, bis ich alles durchgesehen hätte.«
Die Uhr auf dem Kaminsims machte ein klickendes Geräusch, sodass Mary aufsah. Vier Uhr! In Cheyne Walk würde die Dienerschaft bald aufstehen. Sie stellte alles wieder hin, wie sie es vorgefunden hatte, und verabschiedete sich bedauernd von demHund. Befürchtungen, dass er vielleicht Theater machen könnte, verflogen, als sie die Tür aufschloss. Er schien zu wissen, dass Ruhe entscheidend war. Nachdem er ihr liebevoll die Hand geleckt hatte, kroch er wieder unter den Schreibtisch und blieb dort still liegen.
Auf ihrem Rückweg stieß Mary im Treppenhaus fast mit einem der Nachtwächter zusammen. Zum Glück war er so schläfrig, dass er ihren Schatten auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock nicht bemerkte. Genau genommen hatte sie die ganze Nacht unerhörtes Glück gehabt, abgesehen von der Sache mit den Akten. Als sie durch die Stäbe des eisernen Zaunes schlüpfte und sich dabei wieder die Brust platt drückte, war es immer noch fast dunkel. Sie würde es schaffen, dachte sie froh. Sie hatte zwar noch nicht gefunden, wonach sie suchte, aber sie würde –
Verdammt.
Vor lauter Selbstlob hatte sie die Hauptregel vergessen, die es bei einem Einbruch zu beachten galt: Bleib immer auf der Hut und lass deine Gedanken niemals abschweifen.
»Salve, junger Freund, sei gegrüßt«, näselte eine Stimme aus dem Nebel.
Große Hände umklammerten ihre Oberarme. Sie zog so scharf die Luft ein, dass es schmerzte. Von dem, der sie erwischt hatte, konnte sie nur den Umriss erkennen: hochgewachsen, breitschultrig, männlich.
Ehe sie vor Furcht gelähmt war, gewann ihr Instinkt die Oberhand.
Sie holte aus und trat dem Mann fest auf den Spann, nahm außerdem die Ellbogen als Waffen zu Hilfe und wand sich kräftig und schnell aus seinem Griff. Sein Gesicht war in dem grauen Dunst undeutlich auszumachen und sie griff erneut an und versetzte ihm einen Hieb auf die Nase.
Er grunzte, fluchte und stolperte
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