Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
ausfindig machen können. Da endete die Geschichte. Miss Quinn hatte außerhalb der Schule keine Freunde, keinen, den sie regelmäßig besuchte, überhaupt keine Verbindungen.
Diese wenigen Details waren eher verwirrend als eine Hilfe. In der vergangenen Nacht hatte er nicht schlafen können und sich stattdessen immer wieder das wenige vor Augen geführt, was er von ihr wusste: Mary Quinn, Lehrerin und nun angestellte Gesellschafterin. Geburtsdatum: unbekannt. Geburtsort: unbekannt. Eltern: unbekannt. Kindheit: unbekannt. Es war zum Verzweifeln. Seinem Informanten zufolge musste eigentlich mehr zu erfahren sein, selbst über Waisenkinder, die von der Gemeinde aufgezogen worden waren. Entweder war das Mädchen ein vollkommen vernachlässigtes Waisenkind oder sie hatte einen falschen Namen angenommen. Beide Möglichkeiten schienen kaum wahrscheinlich.
James betrachtete sie, während sie die Lagerhäuser inspizierte. Ihre sittsame Kleidung und ihre anmutigen Bewegungen deuteten weder auf Kriminalität noch Schuldbewusstsein hin. Sicher, er wusste schon, dass der Schein manchmal trog und dass sich hintereiner freundlichen Maske Grausamkeit oder Laster verbergen konnten. Aber er wollte einfach nicht glauben, dass sie eine gewöhnliche Diebin war oder vorhatte, jemanden zu erpressen – und schon gar nicht, dass sie Thorolds Geliebte war. Als er wach im Bett lag, hatte er sich ein unmögliches Szenario nach dem anderen vor Augen geführt: Sie war eine uneheliche Tochter von Thorold; oder sie suchte nach Hinweisen auf ein Erbe, das ihr Thorold vorenthalten hatte; oder sie war einfach ein unschuldiges Mädchen, das gezwungen wurde (von wem? von Gray?), das Büro zu durchsuchen; oder …
Mary überquerte die Straße und ging weiter in der Nähe der Lagerhäuser von Thorold umher. Sie schien sich den hohen Eisenzaun anzusehen, der in spitzen Zacken endete und das Gelände umgab. Mit jeder Minute wurde ihre Unschuld weniger wahrscheinlich. James wusste, dass seine eigene Vorgehensweise natürlich auch verdächtig war. Aber seine Motive waren absolut lauter.
Er wusste nur zu gut, was er eigentlich tun sollte: sich nicht weiter um sie kümmern, es sei denn, ihre Tätigkeit kam seinen eigenen Nachforschungen ins Gehege. Er wusste genauso gut, was er
nicht
tun sollte: seine Zeit verschwenden – und sich um den Schlaf bringen –, indem er sich über ihre Motive den Kopf zerbrach. Sich Sorgen darüber machen, in was für eine Gefahr sie geraten könnte. Sich auf Wortgefechte mit ihr einlassen, wenn er Angelica seine Aufwartung machte. Und vor allem sollte er eines
nicht
tun: die schlanke Eleganz ihrer Figur dort drüben, hundert Meter weiter, bewundern.
Das sollte er auf keinen Fall.
Und was das Zeitverschwenden anging … Er blickte auf seine Taschenuhr. Jetzt hatte er gesehen, was Mary im Schilde führte, wenn auch nicht, warum sie das tat, und in einer halben Stunde musste er einen Kunden treffen. Er neigte den Kopf ein wenig und blieb an einer ruhigen Straßenecke stehen.
Mary verschwand aus seiner Sicht.
»Sir?« Alfred Quigley war aufgetaucht.
»Komm heute Abend mit deinem Bericht in mein Büro. Ich bin bis acht Uhr dort.« Er murmelte die Adresse.
Quigley nickte kurz, hüpfte davon und verlor sich sofort in der Menge der Menschen.
***
Am selben Abend um sieben Uhr war James der Letzte, der noch in den Geschäftsräumen in der Great George Street anwesend war. Das war meistens so, doch heute Abend war er abgelenkt und unproduktiv. Er hatte gerade zum x-ten Mal beschlossen, nicht mehr an Mary Quinn zu denken, als ein leichtes Scharren an der Tür seinen Kopf hochfahren ließ. »Herein.«
Alfred Quigley schlüpfte geräuschlos in den Raum. »’n Abend, Mr Easton.«
»Nun, Quigley?«
Der Bericht des Jungen war denkbar schlicht. MissQuinn hatte noch ungefähr zehn Minuten lang das Gelände der Lagerhäuser begangen, dann hatte sie eine Pferdebahn in die Stadt genommen. Unterwegs machte sie bei dem Kaufhaus Clerkenwell halt und kaufte einige Dinge, darunter mehrere Meter Schiffstau und Männerkleidung, was sie alles bar bezahlte. In der Bond Street stieg sie erneut aus und kaufte Bänder und Seidengarn, was sie auf den Namen Thorold anschreiben ließ. Den restlichen Tag verbrachte sie im Haus.
James’ Ausdruck verfinsterte sich, während er Quigley zuhörte. »Was hat sie deiner Meinung nach mit dem Seil und den Männerkleidern vor?«
»Sieht aus, als ob sie in das Lagerhaus einbrechen will, Sir.
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