Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
Mary durch die gesenkten Wimpern beobachten konnte. Sie verdrehte die Augen und griff sich theatralisch an den Hals. Mrs Thorold, am anderen Ende des Tisches, presste die Lippen zu einer geraden Linie zusammen. Der Blick, den sie ihrem Mann zuwarf, war düster und vorwurfsvoll – ja, fast wütend.
Angelica räusperte sich. »Das kommt aber sehr überraschend, Papa. Was sollen wir den ganzen Sommer über in Brighton?«
Thorold sah verwirrt aus. »Nun, Ferien machen natürlich. Das Haus liegt besonders entzückend – ganz nah am Strand.« Nach und nach wurde ihm die allgemeine Stimmung bewusst und er sah Angelica leicht stirnrunzelnd an. »Aber … ich dachte, das würde dich freuen, mein Liebes. Ich dachte, dass es dir letztes Jahr in Brighton so gefallen hat.«
Angelica holte tief Luft, als müsse sie ihre gesamte Geduld aufbringen. »Stimmt, Papa. Aber das waren ja auch nur vierzehn Tage. Und überhaupt, das kommt so unerwartet – ich muss meine ganzen Musikstunden umlegen und ein paar gesellschaftliche Verpflichtungen ebenfalls, wenn wir wirklich schon übermorgen fahren müssen.«
Thorold blickte jetzt entnervt über den Tisch zu seiner Frau. Als er ihren Ausdruck sah, machte er ein betroffenes Gesicht. »Ich … ich gehe wohl richtig in der Annahme, dass meine freudige Nachricht auch für dich ganz unwillkommen ist, Mrs Thorold.«
Mrs Thorold seufzte und lieferte einen langen, umständlichen Bericht ihre Gesundheit betreffend.
Mary lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und beobachtete Angelica. Das Mädchen schien nicht überrascht. Im Gegenteil, sie sah ihre Mutter mit einem amüsierten Blick an. Hatte sie sie um Hilfe gebeten, um in der Stadt bleiben zu können? Wie hatte sie es geschafft, die alte Dame zu überreden, ohne zu verraten, dass sie selbst höchst interessiert am Bleiben war?
Unvermittelt und lebhaft standen Mary die Unterstellungen des Kutschers vor Augen – Andeutungen, die sie an diesem Tag nicht weiter hatte verfolgen können. Wenn Brown recht hatte, hatte Mrs Thorold ein starkes persönliches Interesse, in London zu bleiben. Vielleicht steckte Angelica also doch nicht dahinter. Und es ließ Thorolds Bemühen, die Familie aus der Stadt zu schaffen, in ganz neuem Licht erscheinen, und erklärte auch seinen angespannten Ausdruck. Wollte er eine außereheliche Affäre seiner Frau beenden? Der Brighton-Plan erschien plötzlich vernünftig und dringend.
Und wenn dem tatsächlich so war – wenn Mrs Thorold eine solche Beziehung unterhielt –, dann musste ihre Rolle als kränkliche Invalidin vollkommenvorgetäuscht sein! Wie sonst konnte sie genug Energie für Leidenschaft und Täuschungsmanöver aufbringen, wo sie doch für alles andere zu schwach schien? Marys Finger umkrampften den Stiel ihres Weinglases. Ein groß angelegtes Täuschungsmanöver … größer, als sie sich vorgestellt hatte, und auf seine Weise vielleicht noch umfassender als die schmutzigen Geschäfte von Mr Thorold. Immerhin, wenn eine Frau ihren Mann, ihre Tochter und alle Hausangestellten bezüglich ihres Gesundheitszustandes, ihrer Fähigkeiten, ihres Charakters an der Nase herumführen konnte – dann war sie tatsächlich eine sehr begabte Person.
Mary merkte, dass sie Gefahr lief, das zarte Kristallglas zu zerbrechen. Sie riss sich zusammen und konzentrierte sich auf Mrs Thorolds Stimme. »Unmöglich, einen Internisten von Mr Abernethys Format in Brighton zu finden. Ganz undenkbar. Das Gleiche gilt für Mr Bath-Oliver, meinen Facharzt für Orthopädie, der der beste Mann in Europa auf seinem Gebiet ist. Und dann noch …«
Während sie so weiterklagte, warf Mary einen Blick auf Michael. Sofort wandte er den Blick von Angelica ab.
Thorold wurde schließlich ungeduldig. »Schon gut, Mrs Thorold, schon gut. Ich verstehe. Ich möchte euch dennoch unbedingt aus der Stadt haben. Dieser schreckliche Gestank aus dem Fluss wird immer unerträglicher.« Er schwieg. »Aber wenn es deiner Gesundheit zu sehr schadet, wenn du gezwungen wirst,deine Behandlungen abzubrechen … Wenn du es als größeres Risiko ansiehst, London zu verlassen, als hierzubleiben …«
Mrs Thorolds Augen blitzten kurz und stahlhart auf. Als sie sprach, war ihre Stimme jedoch samtweich. »Das befürchte ich, mein lieber Mann.«
Er seufzte und schloss die Augen. Nach einer Minute nahm er das Wort mit gepresster Stimme wieder auf. »Dann bleibt nur noch eine Entscheidung. Ich werde das Haus in Brighton dennoch
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