Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
sie einschlief, und die Finger um den Jadeanhänger geschlossen. Sie konnte es kaum erwarten, die Papiere ihres Vaters zu studieren, und verfluchte den Fall bei den Thorolds, der sie daran hinderte. Aber sie musste ihre Pflicht erfüllen. Und wie Mr Chen gesagt hatte, sie hatte ja schon zehn Jahre verstreichen lassen.
Zwei Tage
, sagte sie sich.
Nur noch zwei Tage
.
Siebzehn
Samstag, 15. Mai
T rotz der Aufregungen am Tag zuvor hatte Mary gut geschlafen. Sie hatte genug Zeit vor dem Frühstück, um James eine kurze Nachricht zukommen zu lassen, in der sie das Gespräch zwischen Michael und Mr Thorold beschrieb und ihm ein Treffen nach dem Mittagessen vorschlug. Als sie vom Briefkasten zurückkam, fand sie Michael allein in der Eingangsdiele vor. Er war zum Ausgehen gekleidet und machte ein besorgtes Gesicht. Als er sie sah, wurde er blass und ließ seinen Spazierstock mit lautem Geklapper fallen.
»Guten Morgen, Mr Gray. Ein schöner Tag, nicht wahr?« Das stimmte natürlich nicht: Es war schwül und grau und die Luft war bereits wieder erfüllt von dem schrecklichen Gestank des Flusses.
»Ja, herrlich!«, erwiderte Michael automatisch und bückte sich, um seinen Stock aufzuheben.
Ha! Mit umständlichen Bewegungen zog Mary ihre Handschuhe aus und löste ihren Hut, wobei sie Michael im Spiegel beobachtete. »Was haben Sieheute geplant, Mr Gray?« Sie redete bewusst laut. »Irgendetwas Besonderes?«
Er runzelte die Stirn und machte eine Bewegung, als wolle er sie zum Schweigen bringen. »Nein – nur das Übliche.«
»
Nur
das Übliche?«
»Ja.« Seine Stimme war belegt.
Sie lächelte kokett. »Wie überaus anständig von Ihnen, Mr Gray.«
Er sah mit einem kurzen Blick, der beinahe an Verzweiflung grenzte, nach oben. »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht, Miss Quinn.«
Abrupt drehte sie sich um. Keine Spur mehr von Flirt. Sie machte fünf schnelle Schritte durch die Diele und starrte dem bedauernswerten Sekretär direkt ins Gesicht. »Ich meine Ihre heimlichen Treffen mit Miss Thorold, Sir.«
Er geriet eindeutig aus der Fassung. »Ich … das ist eine Anschuldigung, die völlig aus der Luft –«
Mit leiser Stimme schnitt sie ihm scharf das Wort ab. »Vor zwei Tagen, im Park? Und gestern Morgen, im Frühstückszimmer?«
Schweigen. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab. Unbeirrt hielt sie den Blick auf seine Hand gerichtet, die den Stock hielt und deren Knöchel sich weiß abzeichneten. »Haben Sie sich wirklich eingebildet, mich für dumm verkaufen zu können, Mr Gray?«
Entsetzt riss er die Augen auf.
»Das ist ja so ein billiges Spiel, mit der armen, verzweifeltenangestellten Gesellschafterin zu flirten. Sie ist Wachs in Ihren Händen und merkt bestimmt nichts davon.« Sie kniff die Augen zusammen. »Stimmt das nicht, Mr Gray?«
Sein Gesicht war dunkelrot. »Miss Quinn …«
»Sparen Sie sich Ihre Worte!«
Er verstummte gehorsam.
»Und natürlich«, murmelte sie, »haben diese Treffen etwas mit dem gestrigen Besuch in dem Laskarenheim zu tun.«
Wieder das Entsetzen. Er versuchte nicht, ihre Behauptung zu bestätigen oder abzustreiten – er starrte sie nur mit ängstlich aufgerissenen Augen an.
Mary wartete. Sie brauchte Antworten, Informationen,
irgendetwas.
Wie sah der Plan aus? Die Stille hielt an und wurde nur vom ständigen Ticken der Standuhr unterbrochen.
Schließlich murmelte er: »Ich nehme an, Sie gehen mit all dem schnurstracks zu Thorold.«
Sie sah ihn noch einen Augenblick an. Sie konnte gut bluffen, hatte es schon immer gekonnt. Trotzdem fehlten ihr noch zu viele Einzelheiten, um entschieden zu handeln. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, die Karten auf den Tisch zu legen …
»Sieh einer an! Guten Morgen, Miss Quinn. Lassen Sie uns gehen, Gray.« Die Stimme kam aus dem Treppenhaus, leise und angespannt. Sie war so anders als das übliche freundliche Getöse von Mr Thorold, dass Mary sie erst erkannte, als dieser zu sehen war.
Sie knickste artig. »Guten Morgen, Sir.«
Sein Blick schien sie kaum wahrzunehmen. Er riss die Haustür auf. »Kommen Sie, Gray.«
Michael folgte ihm. Sein erschütterter Blick ließ Mary nicht los. Gut. Sollte er sich ruhig Sorgen machen. Mit ihrem lieblichsten Lächeln wünschte sie den beiden einen guten Tag und verschwand im Frühstückszimmer.
***
James war sogar noch effizienter, als sie gehofft hatte. Mary hatte gerade Eier und Brötchen verzehrt und trank eine Tasse Schokolade, als ein Hausdiener kam, der ein
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