Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
sich Angelica nie über die Ungereimtheiten im Verhalten ihrer Mutter gewundert? Oder tat sie ihrer Mutter nur den gleichen Gefallen: sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren und alle anderen in Ruhe zu lassen? Nun, jetzt war nicht der Zeitpunktfür dieses Thema. »Trotzdem kommt es mir falsch vor, gar nichts zu unternehmen!«, beharrte sie.
Michael nickte unbehaglich. »Sie haben recht. Ich …« Er verstummte und schien zu überlegen. »Dies ist sehr vertraulich, müssen Sie wissen.«
Mary nickte und versuchte, nicht allzu begierig auszusehen.
»Ich habe mir Kopien von den Abrechnungen und ein paar entscheidenden Dokumenten gemacht. Sie sind in keiner Weise irgendwie beglaubigt oder offiziell …«
»Ja?«, ermunterte sie ihn. »Sie sind nicht offiziell, aber ziemlich vollständig?«
Er nickte. »Ich verwahre sie an einem sicheren Ort.«
»Nicht im Haus, hoffe ich doch?«, fragte Mary und hoffte, ganz naiv zu klingen.
Michael sah sie erschrocken an. »Im Lagerhaus? Guter Gott, nein!«
»Ich habe gemeint, im Wohnhaus.«
»Ach so.« Michael sah sie listig an. »Ach, sagen wir einfach, sie sind gut versteckt.« Er warf Angelica einen zärtlichen Blick zu. »Nicht wahr, Liebling?«
»Ja. Ich war zuerst dagegen«, setzte Angelica hinzu. »Aber je länger ich mich mit der Sache auseinandergesetzt habe, desto wichtiger scheint sie mir. Vielleicht kann Michael Papa eines Tages überzeugen, etwas zu unternehmen; alles richtigzustellen.«
Gut versteckt? Von beiden gemeinsam? Mary hatte plötzlich eine Ahnung, wo. »Sie haben also alleUnterlagen, die Sie brauchen, um Mr Thorold von der Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens zu überzeugen?«
Michael nickte. »Ich habe so viel, dass sich die Behörden auf jeden Fall dafür interessieren werden.«
»Eines Tages«, setzte Angelica fest hinzu.
Neunzehn
M rs Thorold war noch in ihrem Zimmer und Mr Thorold längst zum Büro aufgebrochen, daher bemerkten nur die Hausangestellten, dass Mary in das Haus im Cheyne Walk zurückkehrte. Sie nahmen wohl an, dass Mary mit Angelica ausgegangen und nur rasch zurückgekehrt war, um irgendetwas zu holen. Und in gewisser Weise stimmte das ja.
Mary ging direkt in den Salon zu der Notentruhe neben dem Klavier. Einige der Noten waren gedruckt und gebunden, aber viele hatte Angelica auch mühevoll von Hand abgeschrieben und zusammengeheftet. Ihre Begeisterung für Musik war auffallend. Die meisten Noten junger Damen bestanden aus einfachen Liedern mit hübschen Melodien. Angelica zog ein herausforderndes Repertoire moderner Komponisten vor – Mendelssohn, Chopin und vor allem Schumann. Während Mary suchte, überlegte sie, wie es wohl wäre, Angelica zu sein: hübsch, verwöhnt und für die Ehe bestimmt. Hatte sie jemals etwasanderes angestrebt? Vielleicht Pianistin zu werden wie Clara Schumann? Mary konnte sich nicht von der Vorstellung frei machen, dass Angelicas Ausfälle und Launen ein Zeichen dafür waren, dass sie unglücklich war.
Ziemlich weit unten in der Truhe fand Mary ein Klavierkonzert von Schumann. Es war besonders schön in braunes Leder gebunden und trug eine Widmung:
Für A. T. zu ihrem achtzehnten Geburtstag von M.G.
Angelicas Lieblingsmusik als Geschenk von ihrem Liebling. Marys Puls beschleunigte sich, und sie wusste, dass es das sein musste. Und tatsächlich, im hinteren Teil lagen ungefähr ein Dutzend lose Blätter, die dicht von Hand beschrieben waren. Sie las die Seiten sorgfältig durch. Kontenblätter – Zahlungsaufträge – Notizen zu Schiffsversicherungen – und entscheidende Schriftwechsel zwischen Thorold und einem Angestellten der Lloyd-Versicherung. Ja. Die Papiere enthielten genügend Informationen.
Die Uhr im Salon schlug halb zwei, und Mary fiel ein, dass sie in James’ Büro erwartet wurde. Es blieb keine Zeit, eine Abschrift zu machen, und es würde Michael und Angelica große Sorgen bereiten, wenn sie den ganzen Stapel entnehmen würde. Als Kompromiss wählte Mary daher nur einige Dokumente aus. Drei oder vier Seiten, so sagte sie sich, würden schon nicht vermisst werden. Sie steckte sie ein und musste dabei sehnsüchtig an die Dokumentenrolle ihres Vaters denken. In zwei Tagen würde das hier vorüber sein. Dann konnte sie in das Heim zurückkehrenund mehr erfahren. Inzwischen war es einfacher, gar nicht an ihn zu denken.
***
Als Mary in der Great George Street ankam, wartete James bereits im Eingangsbereich. Er begrüßte sie nicht, sondern nahm sie beim Arm, führte
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