Ein verhängnisvolles Versprechen
sieht das überall hier. Sogar sonst ziemlich anständige Menschen machen mit, weil man hier praktisch alles damit entschuldigen kann, dass man sagt: Es geht um die Zukunft meines Kindes. Verstehen Sie?«
»Schon, aber was hat das Ganze mit mir zu tun?«
»Sie müssen das verstehen. Damit müssen wir konkurrieren. Mit dem Geld und der Macht, die dahinter steht. Mit Leuten, die stehlen und betrügen und alles für ihr Kind tun würden.«
»Wenn Sie mir sagen wollen, dass der Wettbewerb um die Plätze an den besten Unis hier im Ort sehr hart ist, kann ich das nachvollziehen. Aber das war er früher auch schon, als ich meinen High-School-Abschluss gemacht habe.«
»Aber Sie waren ein Basketball-Star.«
»Ja.«
»Roger ist ein sehr guter Schüler. Er arbeitet extrem hart. Und sein Traum ist es, auf die Duke zu gehen. Das hat er Ihnen auch erzählt. Wahrscheinlich erinnern Sie sich gar nicht mehr daran.«
»Ich weiß, dass er sich da bewerben wollte. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass er mir gesagt hätte, dass Duke seine Traum-Universität ist oder so was. Er hat einfach ein paar gute Unis aufgezählt.«
»Es war seine erste Wahl«, sagte Maxine Chang bestimmt. »Und wenn er dort zugelassen worden wäre, hätte er auch ein Stipendium bekommen. Die Uni hätte ihm die Studiengebühren erlassen. Das hätte uns extrem geholfen. Aber sie haben ihn nicht genommen. Obwohl er der Viertbeste seines Jahrgangs war und in den Zugangstests sehr gute Ergebnisse hatte. Bessere Ergebnisse – und bessere Noten – als Aimee Biel.«
Maxine Chang sah Myron finster an.
»Moment mal. Wollen Sie mir die Schuld daran geben, dass Duke Roger nicht angenommen hat?«
»Ich bin keine gebildete Frau, Myron. Ich habe hier nur meine kleine chemische Reinigung. Ich weiß aber, dass eine Universität wie Duke so gut wie nie mehr als einen Schüler aus einer einzigen High School in New Jersey nimmt. Aimee Biel hat’s geschafft. Roger hatte bessere Noten. Er hatte bessere Ergebnisse in den Zugangstests. Er hatte tolle Empfehlungen von Lehrern. Sportler sind sie beide nicht. Roger spielt Geige, Aimee Gitarre.« Maxine Chang zuckte die Achseln.
»Also verraten Sie mir doch, Myron, warum Aimee genommen worden ist und Roger nicht?«
Er wollte protestieren, schwieg aber, weil er nicht sicher war, ob Maxine Chang nicht Recht haben könnte. Er hatte eine Empfehlung geschrieben. Und dann hatte er noch seinen Freund bei der Zulassungsstelle angerufen. So etwas war normal. Es bedeutete nicht, dass Roger Chang deshalb die Zulassung verweigert worden war. Aber es war eine einfache Gleichung: Wenn einer den Platz kriegt, kann ein anderer ihn nicht kriegen.
Maxine flehte ihn weiter an: »Roger war sehr wütend.«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Nein, ist es auch nicht. Ich rede mit ihm. Er wird sich bei Ihnen entschuldigen. Das verspreche ich.«
Da kam Myron ein anderer Gedanke. »Ist Roger nur auf mich wütend gewesen?«
»Wieso?«
»Oder war er auch auf Aimee wütend?«
Maxine Chang runzelte die Stirn. »Warum fragen Sie?«
»Weil direkt nach dem Gespräch mit mir Aimee Biels Handy angerufen worden ist. War Roger wütend auf sie? Hat er ihr was nachgetragen?«
»Nicht Roger, nein. So ist er nicht.«
»Klar. Er ruft nur mich an und bedroht mich.«
»Das hat er nicht so gemeint. Er musste sich abreagieren.«
»Ich muss Roger sprechen.«
»Was? Nein, das verbiete ich Ihnen.«
»Gut, dann geh ich zur Polizei. Ich erzähl denen von den Drohanrufen.«
Ihre Augen weiteten sich. »So was würden Sie nicht tun.«
Er würde es tun. Vielleicht sollte er es sogar tun. Aber jetzt noch nicht. »Ich will ihn sprechen.«
»Er kommt nach der Schule nach Hause.«
»Dann bin ich um drei zurück. Wenn er dann nicht hier ist, geh ich zur Polizei.«
32
Dr. Edna Skylar holte Myron in der Lobby des St. Barnabas Medical Centers ab. Sie sah aus, wie man sich eine Ärztin vorstellte: weißer Kittel, Namensschild mit Krankenhaus-Logo, Stethoskop um den Hals und ein Klemmbrett in der Hand. Durch ihre Körperhaltung, das knappe Lächeln und den festen, aber nicht zu festen Handschlag strahlte sie auch die Souveränität aus, die man von einer Ärztin erwartete.
Myron stellte sich vor. Sie sah ihm direkt in die Augen und sagte: »Erzählen Sie mir alles über das vermisste Mädchen.«
Ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Myron musste ihr Vertrauen gewinnen, also erzählte er, was mit Aimee passiert war, und sparte nur ihren Nachnamen aus. Sie
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