Ein Versprechen aus Afrika
weniger gravierender Delikte, die immer nach dem gleichen Strickmuster abgelaufen waren, auf der »Ehrenbank«. Ulysse war ein großer Reisender, der jedoch grundsätzlich jede Hotelrechnung schuldig blieb. Sein Rezept war einfach, aber wirkungsvoll. Mit seinem grauen Bart flößte er jedem sofort Vertrauen ein, umso mehr, als er dem Hotelbesitzer, bei dem er eine Nacht oder eine Woche Quartier bezog, eine rührende Geschichte auftischte. Man habe ihm seinen Koffer mit allen Papieren gestohlen, was besonders ärgerlich sei, da er Architekt wäre und einen wichtigen Termin hätte. Je nach Laune war er auch gelegentlich Gelehrter oder pensionierter Polizist. Die Hotelbesitzer waren gerührt und bemühten sich nach Kräften, den charmanten älteren Herrn, dem so übel mitgespielt worden war, zu trösten.
Am nächsten Morgen machte sich Ulysse im Morgengrauen wieder auf den Weg, allerdings ohne seine Rechnung zu bezahlen. Die geprellten Hotelbesitzer erstatteten Anzeige, man erstellte ein Protokoll ihrer Aussagen und notierte die Beschreibung des »unverdächtigen« Herrn, der sich als Gauner erwiesen hatte und ständig seine Identität wechselte. Inzwischen war dieser Herr bereits wieder unterwegs auf der nächsten Etappe seiner Irrfahrt, seiner endlosen Reise, auf der er noch nie eine Hotelrechnung oder eine Fahrkarte bezahlt hatte. Sein Know-how war einmalig.
Noch am selben Abend stieg er in einem anderen Hotel ab. Mit angenehmer Stimme erzählte er mit den entsprechenden Variationen seine Geschichte. Um seine Worte zu unterstreichen, überreichte er in Ermangelung eines Ausweises (den man ihm ja zusammen mit dem Auto gestohlen hatte!) seine Visitenkarte (er besaß eine ganze Sammlung davon, die auf unterschiedliche Namen lauteten). Für einige Franc konnte man sich solche Karten in jedem Supermarkt ausdrucken lassen. Dank dieser Karten untermauerte er seine Angaben, Polizeiinspektor, Eisenbahner oder dergleichen zu sein. Und niemals vergaß er eine auch noch so kleine Einzelheit, die Vertrauen erweckte. Ganz automatisch erwähnte er jedes Mal, dass er der Ehrenlegion angehörte. Und das Auto, das ihm angeblich gestohlen worden war, war immer ein Jaguar, Audi oder Mercedes. Diese Bemerkung weckte das Vertrauen der Zuhörer. Außerdem rechtfertigte der Autodiebstahl seinen Hotelaufenthalt.
Ulysse, ein hervorragend organisierter Gauner, ergriff häufig die Vorsichtsmaßnahme, bei der örtlichen Polizei Strafanzeige zu erstatten, noch bevor er sich ins Hotelregister eintrug. Er bekam dann jeweils eine Kopie des Diebstahlprotokolls, was sich gut machte und die zukünftigen Opfer vollends überzeugte. Es blieb ihm dann nichts anderes mehr zu tun übrig, als die Speisekarte zu studieren und sich zum Trost ein köstliches Dinner zu gönnen. Wenn Ulysse die landesüblichen Spezialitäten sowie einen Rotwein der Spitzenklasse genoss, zog er alle Register seines Charmes. Gerne fragte er den Geschäftsführer des Restaurants um Rat und gab eine melodramatische Version seines traurigen Lebens zum Besten. Die Besitzer des jeweiligen Lokals waren tief erschüttert, wenn sie die traurige Geschichte dieses Mannes hörten, der für die einzige Leidenschaft in seinem Leben alles geopfert hatte.
Ulysse sagte, da er Tag und Nacht geschuftet habe, habe er im Privatleben alles verloren. Seine Frau habe ihn schließlich verlassen und ihm einen jüngeren, reicheren, weniger arbeitsamen Mann vorgezogen. Außerdem hätte er mit der Enttäuschung fertig werden müssen, von seinem Sohn, den er zu sehr geliebt und zu sehr verwöhnt habe, im Stich gelassen zu werden. Sein Sohn sei in die Ferne gezogen, nach Indien, Kanada oder Südamerika oder Gott weiß wohin, und habe seinem armen Vater, der sich für ihn aufgeopfert hatte, nicht einmal ein Lebenszeichen gegeben. An dieser Stelle des Berichts holte der Besitzer meistens eine gute Flasche Schnaps, um sein Mitgefühl für den armen Ulysse auszudrücken, dessen Schicksalsschläge nicht weniger gravierend waren als die, die in der Ilias geschildert werden.
Im Lauf der Jahre versuchte Ulysse seine Berichte mit vielen kleinen, der Wahrheit entsprechenden Einzelheiten auszumalen, die den Moment hinauszögerten, bis er angesichts der berechtigten Zweifel der Hotelbesitzer unbemerkt wieder das Weite suchen musste. So hatte er mehrmals Gelegenheit, ihnen vorzugaukeln, er sei Besitzer des belgischen »Palace-Hotels«. Gelegentlich trat er auch als Direktor eines Palasthotels in Ostende auf, und nichts
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