Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Onkels. Das ist alles, was Sie wissen müssen. Das ist alles, worauf es ankommt.« Wieder zog er mit dem Zeigefinger die Konturen seiner Narbe nach.
»Aber was ist passiert?« Tess konnte es nicht dabei belassen. »Haben Sie nicht die Polizei gerufen? Hat es keine Ermittlung gegeben? Warum sollten sie …«
Sie hielt inne, weil Tonino lachte, rau und humorlos. »Sie sind hier auf Sizilien, Tess«, sagte er. »Wir reden von den Sciarras.«
»Aber …«
Weiter kam sie nicht. Er war einen Schritt näher an sie herangetreten und umfasste ihre Schultern. »Lassen Sie es, Tess.«
Als sie den Kopf drehte, streifte sein Mund ihr Haar. Etwas an der Linie seines Kiefers war ihr vertraut. Sie erinnerte sie an jemanden oder etwas. Er roch nach wilder Minze und Zitronen. Tess berührte die Narbe in seinem Gesicht und spürte, wie er zusammenzuckte. »Diese Narbe …«, sagte sie. Plötzlich wusste sie es.
»Ja.« Er neigte den Kopf. »Als wir junge Burschen waren, haben wir uns ständig geprügelt. Es lag uns im Blut.«
Sie fuhr die Linie entlang. Giovanni war das also gewesen. Aber warum war sein Onkel ermordet worden, und wie war es möglich, dass die Sciarras straflos davongekommen waren? Das war alles schrecklich verwirrend. Schulden, ein Diebstahl, Verrat – und jetzt das! Mord …
Sie ließ die Hand auf seine Schulter sinken. Am liebsten hätte sie sie in seinen Nacken gelegt, an diese warme Stelle, wo sich sein dunkles Haar so verführerisch lockte. Aber … Es musste an diesem Ort liegen, an seiner Ausstrahlung.
»Sie haben mir die Geschichte der Meerjungfrau noch nicht erzählt«, erinnerte sie ihn leise.
Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt. »Das werde ich noch tun«, sagte er. Er beugte sich leicht vor, und sie spürte, wie seine Lippen einen winzigen Augenblick lang ihren Mund berührten. »Ich glaube, Sie kommen zurück nach Sizilien«, sagte er. »Sie kommen zurück nach Cetaria, ja?«
»Ja.« Sein Nacken war so warm, wie sie es vermutet hatte. Einen Moment lang dachte sie nicht an Robin, Ginny oder Muma und Dad. Sie dachte an nichts, weder an die Sciarras noch an die Amatos oder Farros von Sizilien, nicht an die Villa Sirena oder die Geheimnisse, die sie hütete, nicht einmal an die Geschichte ihrer Mutter. »Ich komme wieder«, sagte sie, obwohl sie keine Ahnung hatte, wann das sein würde. »Versprochen.«
23. Kapitel
E in Tisch ohne Brot, so heißt es, ist wie ein Tag ohne Sonne. Brot ist das Grundnahrungsmittel auf Sizilien. Das frische, goldbraune Brot, dick und fest auf der Zunge. Religion und Ritual. Geflochtene Laibe, überkreuzte Laibe, umgedrehte Laibe. Dunkles Brot, Nussbrot, ungesäuertes Brot, Körnerbrot. Gebacken in Ziegelöfen, die mit Olivenholz befeuert wurden.
Flavia kannte die Tradition des dekorativen »Votivbrots« seit ihrer Kindheit. Sie war in Sizilien seit Jahrhunderten beliebt. Ostern und andere religiöse Feiertage gaben den kreativeren unter den sizilianischen Bäckern Gelegenheit, ihr bildhauerisches Talent zur Schau zu stellen. Es gab ferro de cavallo, also Hufeisen aus Brot, pesce , also Fisch, und es gab die mafalda .
Es ist nicht einfach. Man muss die richtige Menge Hefe nehmen, damit das Brot beim Backen perfekt aufgeht.
Ob Tess jemals ihr eigenes Brot backen würde? Wahrscheinlich nicht, vermutete Flavia mit Bedauern. Trotzdem sollte diese Kunst nicht in Vergessenheit geraten, nicht, solange noch Atem in ihrem Körper und Kraft in ihren Händen war. Flavia begann, das Rezept niederzuschreiben; ihr Rezept, das Mama an sie weitergegeben hatte, und die hatte es wiederum von ihrer Mutter.
Brot, das Symbol dafür, dass alles weitergeht. Brot, der Stoff, aus dem das Leben ist …
Die Pflege des Piloten gab Flavias Leben neuen Sinn. Sie wurde disziplinierter, selbstloser. Sie versuchte nicht länger, häuslichen Arbeiten aus dem Weg zu gehen, und verbrachte nicht mehr ganze Stunden mit Tagträumen. Im Haus und auf den Feldern arbeitete sie schwer, damit sie zurückrennen und ihn umsorgen konnte. Sie wusste, dass sie alle – Mama, Papa und Maria – mit ihrem Eifer verblüffte. Aber schließlich war er vom Himmel gefallen, und sie hatte ihn gefunden.
Also erhob sie Anspruch auf ihn. Ihn zu berühren, seine Wunden zu waschen, ihm zu essen zu geben, ihm dabei zu helfen, sich aufzurichten, und ihn später zu stützen, als er zum ersten Mal aufstand und so unsicher auf den Beinen war wie eine neugeborene Ziege, das schenkte ihr Zufriedenheit. Zum
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