Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
lächelte. Tätschelte ihre Hand. »Vielleicht sollte ich dich mit in die alte Heimat nehmen«, sagte er, »und dir zeigen, wie England wirklich ist.« Seine Miene verdüsterte sich. »Wenn dieser verdammte Krieg vorbei ist.«
Sie merkte nicht, dass er scherzte. »Würdest du das wirklich tun?«, fragte sie flehend.
Eine lange Pause trat ein. Er starrte sie wortlos an.
»Würdest du mich mitnehmen?« Sie hob ihr Gesicht zu seinem empor, und er stieß ein leises Stöhnen aus. Er beugte sich herunter.
Als er sie küsste, war es anders als alles, was sie sich erträumt hatte. Seine Berührung, seine Lippen, die ihren Mund streiften … Sie spürte in ihrem Inneren etwas, das aufstieg wie glühende Lava und sie verbrannte.
Als er sich von ihr löste, wünschte sie sich, er würde sie erneut in die Arme nehmen, sie wieder küssen, sie an sich drücken, so eng, dass nichts sie je auseinanderreißen konnte …
Aber er mochte sie nicht einmal ansehen. »Geh, Flavia«, sagte er. »Bitte geh.«
Flavia legte ihren Stift weg. Sie musste ausruhen, musste nachdenken. Sie war alt, und die Erinnerungen waren so lebendig, dass es viel für sie war. Sie hatte nicht erwartet, dass die Geschichte staubtrocken klingen würde, wenn sie sie erzählte, aber damit hatte sie nicht gerechnet, mit dieser überwältigenden Trauer, die sie empfand.
Sie konnte nicht sagen, wann genau sie sich in ihn verliebt hatte. War es in dem Moment gewesen, als sie ihn in dem Tal gefunden hatte, schwer verletzt und blutüberströmt zwischen den Trümmern seines Flugzeugs liegend? War es passiert, als er fast gestorben war und sie schon geglaubt hatte, ihn verloren zu haben? Oder vielleicht, als er sie geküsst hatte?
Wieder griff Flavia zum Stift. Sie musste wenigstens die Kontrolle über das behalten, was sie aufschrieb, wenn sie schon ihre Gefühle nicht im Griff hatte. Sie durfte nicht vergessen, für wen sie schrieb. Für Tess. Und doch tat sie es nicht nur für Tess.
» Was ist?«, fragte sie ihn am Tag darauf. »Was habe ich getan?« Wieder wollte er sie nicht ansehen.
»Nichts«, sagte er. Er wirkte traurig. Sanft strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. Seine Fingerspitzen fühlten sich auf ihrer Wange weich an.
Flavia schloss die Augen. Wie gut die Berührung dieses Mannes tat.
»Es war falsch von mir, dich zu küssen«, sagte er. »Ein Mann sollte ein Mädchen nicht ausnutzen.«
»Das hast du nicht getan.« Und dieses Mal war sie es, die sich vorbeugte, um ihn zu küssen. Dieses Mal legte sie die Hände um sein Gesicht, öffnete die Lippen und spürte seinen Geschmack auf der Zunge wie Nektar. Flavia hatte keine Angst davor, ihre Leidenschaft zu zeigen. Sie wollte nur, dass er sie in den Armen hielt. Wünschte sich nur, ihn zu küssen. Immer wieder. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie in ihm ertrunken.
Aber sie griff zu weit vor.
Kurz schloss Flavia die Augen. Es war zu schmerzhaft. Deswegen hatte sie auch …
Das war alles sehr lange her, sagte Lenny, und natürlich stimmte das. Aber Distanz, ob nun zeitlich oder geografisch, linderte den Schmerz nicht immer. Und sie spürte ihn auch jetzt, nach all diesen Jahren, noch immer tief in ihrem Inneren, genauso, wie sie noch immer spüren konnte, wie es gewesen war, als seine weichen Lippen zum ersten Mal ihre berührten.
Im Nachhinein konnte sie auch erkennen, dass sie verwundbar gewesen war. Böse Zungen würden sagen, sie sei fällig gewesen, wie eine reife Frucht, die man nur zu pflücken brauchte. Aber so war es nicht gewesen, wirklich nicht.
Schlagartig wurde ihr klar, dass sie damals fast genauso alt gewesen war wie ihre Enkelin Ginny heute. Allerdings hatte Ginny zu Anfang des Frühlings ihren Geburtstag gefeiert, und Flavia war in jenem Jahr erst im Winter achtzehn geworden. Trotzdem lagen zwischen dem sizilianischen Mädchen von damals und ihrer englischen Enkelin Welten.
Hilf mir, die richtigen Worte zu finden, flüsterte sie. Sie musste ehrlich erzählen, wie es gewesen war.
Sie hatte ihm geholfen, wieder gesund zu werden, ihrem Piloten, und dann hatte sie ihm ihr Herz geschenkt. Es war ihr so einfach und so natürlich vorgekommen. Sie hatte ihn geliebt. Manchmal dachte sie, dass sie ihn immer lieben würde. Er würde bis zu ihrem Todestag in ihrem Herzen wohnen, und sie würde niemals frei sein.
Mama musste die Gefahr gespürt haben. Oder Maria hatte ihr etwas erzählt. Sie sprach mit Papa, und der verhinderte von da an, dass sie mit ihm allein blieb. Aber da war es schon
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