Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Dichter. Sie lächelte.
»Wenn hier Aufführungen stattfinden, wird das Theater mit Flutlicht beleuchtet«, erklärte er. »Die Leute kommen abends mit einer Flasche Prosecco und einem Kissen.«
»Das muss zauberhaft sein.« Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein wehmütiger Unterton in ihre Stimme schlich. Ich will hier nicht weg … , dachte sie. Ihr war, als müsse sie das Geschenk, das Edward Westerman ihr gemacht hatte, wieder zurückgeben.
»Manchmal kommen auch Leute, um sich den Sonnenaufgang anzusehen.« Wieder sah er sie so intensiv und forschend an, als stünde ihre Reaktion auf dem Prüfstand, als ginge es um irgendeine Art Test.
Tess nickte. Sie wollte nichts sagen, um den Zauber nicht zu zerstören.
»Sie bleiben, um zu frühstücken, und jemand kommt mit einem Lieferwagen, um sizilianische Würste und Brötchen zu verkaufen.«
Bei dieser Vorstellung musste sie lachen.
»Was ist?«
»Früher oder später taucht an unverdorbenen Orten immer ein Hotdog-Wagen auf.«
»Hotdog?« Er runzelte die Stirn.
»Eine Wurst in einem Brötchen.« Und nein, sie wusste auch nicht, woher der Name »Hotdog« kam.
Auf dem Parkplatz unterhalb von ihnen war eine Busladung von Menschen eingetroffen und bewegte sich jetzt im Konvoi auf das Theater zu, in dem sie saßen. »Zeit zu verschwinden«, sagte Tonino.
Die beiden sprangen auf den Roller und fuhren die Straße hinunter, die sich auf den einsamen Tempel zuschlängelte. Sie parkten die Lambretta und gingen einen von Agaven und Myrten gesäumten Pfad hinauf. Und da war er. Noch größer, als sie gedacht hatte. Noch älter und noch schöner. Der honigfarbene Stein war verwittert, und in den Winkeln und Rissen der gewaltigen Säulen wuchsen Wildblumen.
»Heute nisten hier die Schwalben«, sagte Tonino. Während er sprach, klingelten irgendwo in der Ferne Ziegenglöckchen.
»Wie alt ist er?«, fragte sie ihn.
»Er stammt aus dem fünften Jahrhundert vor Christus. Es heißt, er sei niemals entweiht worden, weil er gar nicht fertig geworden ist. Er wartet immer noch auf sein Dach, sehen Sie?«
»Hmmm.« Sie sah es. Und nun würde er in alle Ewigkeit darauf warten müssen …
Er lächelte ihr zu. »Es ist friedlich hier, nicht wahr?«, meinte er.
»Ja«, pflichtete sie ihm bei. »Danke.«
»Dafür, dass ich Sie hergebracht habe?« Er zuckte mit den Schultern. »Nichts zu danken. Gelegentlich tut es gut, sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, was die eigene Heimat alles zu bieten hat.«
»Nein, weil sie dafür gesorgt haben, dass mir dieser Anblick nicht entgangen ist.«
Er quittierte ihren Satz mit einem leichten Nicken und dirigierte sie zu einer Holzbank, die neben einem Feigenbaum stand.
Die Stelle war windgeschützt. Sie setzte sich und sah erstaunt zu, wie er zwei dicke grüne Feigen vom Baum pflückte.
Er reichte ihr eine. »Eine frühe Ernte«, meinte er. »Wir hatten einen guten Frühling. Das ist eine San-Pietro-Feige. Normalerweise sind sie erst zum Festtag des Heiligen Ende Juni reif.«
Sie biss in die samtige Haut und spürte das rote Fruchtfleisch körnig, süß und beinahe sinnlich auf der Zunge.
»Es sind vermutlich die ersten der Saison«, sagte er.
Wie unterschiedlich diese beiden Männer doch waren: Tonino Amato und Giovanni Sciarra. Giovanni war Geschäftsmann, Tonino Künstler. Giovanni führte sie in Restaurants, wo er sicher war, das beste Essen und die beste Bedienung zu bekommen; Tonino nahm sie zu einem verfallenen Tempel mit, sang ihr vor und gab ihr frisch vom Baum gepflückte Feigen zu essen.
»Warum hasst Giovanni Sciarra Sie eigentlich so sehr?«, fragte sie plötzlich. Es war ihr einfach so herausgerutscht.
Seine Miene veränderte sich, und er legte die Stirn in tiefe Falten. Er murmelte etwas, das sich wie bastardo anhörte. »Ein alter Streit«, erklärte er und fuhr mit den Fingerspitzen über seine Narbe. »Warum machen Sie sich Gedanken darüber, Tess?« Seine Stimme klang kalt. »Was bedeutet Ihnen das schon?«
Sie erhob sich und stand nun neben ihm. »Ich bin einfach nur neugierig.« Und das war sie immer noch … Woher sollte sie wissen, wem sie vertrauen konnte, solange sie nicht auch seine Version der Geschichte gehört hatte? »Giovanni hat mir davon erzählt …«
Wieder fluchte er unterdrückt. »Es geht um Mord«, knurrte er.
»Mord?« Tess starrte ihn an. »Giovanni hat doch nicht …?«
»Nein, nicht er.« Er wandte sich von ihr ab. »Seine Familie, die Sciarras. Sie sind schuld am Tod meines
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