Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
zu spät. Viel, viel zu spät.
24. Kapitel
N ach ihrer Rückkehr nach Pridehaven hatte eine innere Unruhe von Tess Besitz ergriffen. Sie freute sich keineswegs darauf, wieder arbeiten zu gehen. In England regnete es, und das Haus sah verdächtig aufgeräumt aus. »Ist etwas passiert, während ich weg war?«, fragte sie Ginny, die Tess’ Blick geflissentlich auswich, seit sie wieder da war.
»Passiert?«, wiederholte sie. »Eigentlich nicht. Warum?«
»Es sieht alles so sauber aus«, antwortete Tess und betrachtete ihre Tochter in dem Art-déco-Spiegel über dem Kamin. Ginny hatte ihren Laptop aufgeklappt. Lernen oder Facebook? Wer konnte das schon sagen? Sie persönlich begriff nicht, warum es notwendig war, dass man Dutzende von Bekannten über jede Einzelheit seines Lebens auf dem Laufenden hielt, und zwar in Wort und Bild. Sie fürchtete, dass die reale Welt in Gefahr war, vollkommen zu verschwinden. Aber sie wusste, dass sie sich mit dieser Meinung in der Minderheit befand.
»Wir haben nicht allzu viel durcheinandergebracht.« Ginny klang defensiv. »Ich habe nachher bloß ein bisschen aufgeräumt, nichts weiter.«
Ach ja, die Pizza- und Filmnacht mit den Mädels. »Großartig«, sagte Tess. »Prima.« Doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich nicht so.
Zurück auf der Arbeit, rief Simon Wheeler, ihr Chef, sie in sein Büro, das das »Goldfischglas« genannt wurde, denn es war klein, vollständig verglast und bot keinerlei Privatsphäre.
»Wegen dieses Jobs …«, sagte er.
»Ja?« Tess war froh, dass sie hochhackige Schuhe, ihre kirschrote Seidenbluse, einen schwarzen Blazer und einen schwarzen, eng anliegenden Rock mit einem kleinen Schlitz auf der Rückseite trug. Als Abteilungsleiterin musste sie schick daherkommen, um die unerlässliche Illusion zu erwecken, dass sie alles unter Kontrolle hatte.
»Ich fürchte, dieses Mal haben Sie kein Glück gehabt, Tess«, sagte er.
»Wie bitte?« Hatte sie sich verhört? Und was hatte Glück damit zu tun? Man hatte ihr den Eindruck vermittelt, die Stelle gehöre ihr.
»Wir haben den Posten Malcolm gegeben.«
»Malcolm?« Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er auch im Rennen gewesen war. Sie beugte sich vor. »Malcolm arbeitet doch erst seit fünf Minuten hier.«
»Genauer gesagt sind es fünf Monate«, entgegnete Simon prompt. Er klopfte mit dem Stift auf den Schreibtisch, eine irritierende Angewohnheit, die verriet, dass er sich unwohl fühlte. »Aber das ist auch gar nicht der Punkt, Tess. Er hat schon Erfahrung als Abteilungsleiter. Es tut mir leid.«
Sie sagte nichts. Es hätte auch nicht viel Sinn gehabt. Denn Simon und Malcolm gingen manchmal zusammen in den Pub, und sie war sich ziemlich sicher, dass Simon und seine Frau Marjorie Malcolm und Sheila auch schon zum Abendessen eingeladen hatten. Und außerdem war Malcolm ein Mann. Sie hätte nie gedacht, dass sie das einmal sagen müsste, nicht heutzutage.
»Wir haben Sie ernsthaft in Betracht gezogen.« Simon strich seine Krawatte glatt. Ein weiteres Indiz für sein Unbehagen. »Sie waren eine ausgezeichnete Kandidatin.«
»Nur dass Malcolm besser war«, sagte Tess. Wer hätte gedacht, dass es in einem Wasserwerk in West Dorset Männerseilschaften gab?
»Er hat größeres Engagement gezeigt«, erklärte Simon. »Mehr Ehrgeiz.« Er runzelte die Stirn. »Ich hoffe, dass Sie jetzt nicht allzu enttäuscht sind, Tess.«
Engagement? Ehrgeiz? Tess stand auf. »Ich werde es versuchen«, sagte sie. Enttäuscht? Sie war verdammt wütend, so war das. Sie fühlte sich übergangen, verraten sogar. »Ich dachte, ich hätte den Posten verdient, Sir.«
Simon seufzte. »Es ist nicht leicht, ein Team zu leiten, Tess«, sagte er. »Soziale Kompetenzen sind das Allerwichtigste. Mit Menschen umzugehen ist kein Kinderspiel.«
»Das weiß ich.« Das war nicht fair. Sie hatte schwer für diese Firma gearbeitet, und bis Malcolm aufgetaucht war …
Sie schaute aus dem Goldfischglas nach draußen. Ein paar der jungen Kolleginnen lachten und scherzten mit Malcolm. Soziale Kompetenzen, dachte sie. Janice warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Ihr wurde klar, dass alle Bescheid wussten.
»Ich kündige«, hörte sie sich sagen. Es klang kindisch. Doch sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt nicht mehr bleiben konnte. Alle würden hinter ihrem Rücken feixen, sie bedauern oder sich bei Malcolm anbiedern. Und Malcolm würde ihr direkter Vorgesetzter sein.
»Aber, Tess.« Simon stand ebenfalls auf. »Bitte denken Sie noch
Weitere Kostenlose Bücher