Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
das Salz im Boden hob die Süße der Tomaten hervor. Und Flavia verarbeitete ihre Tomaten erst, wenn sie richtig reif und so rot wie die untergehende Sonne waren. Ah! Ihre Mutter hatte sie gelehrt, dass es für eine gute Küche auf zweierlei ankam: auf Einfachheit und auf die besten, frischesten Zutaten. Das hatte sie nie vergessen. Und trotzdem …
»Aber?«, fragte sie noch einmal.
»Aber ich würde das Haus natürlich gerne einmal sehen«, gab Tess zurück. »Vor allem jetzt, wo es mir gehört.« Sie drehte sich zu Flavia um. »Und ich würde gern sehen, wo du groß geworden bist, Muma.«
Wütend rührte Flavia in der Sauce. Als sie mit Tess schwanger war, hatte sie den Morgen, an dem die Wehen einsetzten, damit verbracht, einen riesigen Topf Bolognese-Sauce zu kochen. »Nestbauinstinkt«, hatte die Hebamme gesagt, als sie ihr davon erzählte. Davon verstand Flavia nichts, aber sie war sicher, dass an dem Tag, an dem sie einmal sterben würde, ein abgedeckter Teigklumpen griffbereit daliegen und darauf warten würde, ausgerollt zu werden. Und ein paar reife Tomaten und Basilikum wären auf halbem Weg in einen Topf.
»Ich verstehe …« Sie versuchte, nicht barsch und gereizt zu klingen, nicht so, als würde sich ihr Herz zusammenkrampfen. »Natürlich.« Warum sollte Tess sich die Villa nicht ansehen? Wovor hatte Flavia solche Angst? Dass Sizilien eine riesige Klaue ausstrecken und ihre Tochter in seine grausame, pechschwarze Mitte ziehen würde? Sie entschied, dass sie eine törichte alte Frau war.
»Außerdem muss ich sogar fahren«, erklärte Tess. Sie schien nicht zu merken, was ihre Worte in ihrer Mutter ausgelöst hatten.
Flavia stand am Herd und war nicht einmal in der Lage, sich umzudrehen. »Warum?« Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Die Knie gaben fast unter ihr nach, und sie hielt sich am Herd fest. Nur eine Sekunde. Gleich würde es wieder vorbei sein. »Warum musst du hinfahren?«
»Es gibt eine Klausel im Testament. Ich muss das Haus erst besuchen, bevor ich entscheiden kann, was ich damit anfange.«
Bevor sie entschied, was sie damit anfangen sollte? Ihre Panik wuchs, aber Flavia rührte weiter. Die Sauce hatte eine schöne Farbe. Ihr ganzes Leben lang hatte das Kochen ihr geholfen; es hatte sie gerettet. Die Tomaten waren eingekocht, ihr Aroma hatte sich intensiviert, und aus dem Topf stieg der köstliche Duft von Tomaten und Chili auf. »Ich verstehe«, sagte sie leise. Und sie begann tatsächlich zu begreifen.
»Ich habe mir die Gegend auf Google Earth angesehen«, erklärte Tess nüchtern, als redete sie von einem Tagesausflug nach Weymouth. »Sie ist wunderschön. Du hast nie erzählt, wie schön es dort ist.«
Flavia stöhnte auf. Sie hatte auch nie erzählt, wo ihr Heimatort lag, oder? Sie zog eine Auflaufform aus dem Schrank. Ihr wurde klar, dass sie früher oder später noch einiges mehr würde erklären müssen.
»Ist es doch, Muma, oder?« Tess’ Stimme klang flehend.
»Ja, es ist schön.« Sie begann, die Form zu füllen: eine Schicht Sauce, dann Parmesan, dann Auberginen. Sauce, Parmesan, Auberginen … Nicht daran denken … Nicht daran denken … Nicht daran denken …
» Ich behalte Ginny im Auge«, hörte Flavia sich sagen, »wenn du die Villa Sirena sehen willst.« Sie hielt kurz inne. »Bevor du sie verkaufst.« Sauce, Parmesan …
»Danke, Muma.« Tess’ Stimme klang jetzt beruhigter.
Denn wenn deine Tochter hierbleibt, wirst du zurückkommen . Doch Flavia sprach es nicht laut aus . Sie öffnete die Tür des Backofens und schob die melanzane parmigiana hinein.
Als Tess und Ginny nach dem Abendessen heimgegangen waren, schmiegte sich Flavia unter ihrer rosa Bettdecke an Lenny. Sie hatten den ganzen Abend über andere Dinge gesprochen, aber Flavia war in Gedanken immer noch in der Vergangenheit gewesen. Jetzt erzählte sie ihrem Mann von dem Gespräch mit Tess.
»Ja, da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt.« Auch Lenny war überrascht. »Sie hat gerade ein Haus in Sizilien geerbt und kein Wort davon gesagt?«
»Weil sie es Ginny noch nicht erzählt hat, deswegen.« Lennys Körper fühlte sich warm und tröstlich an. So war es immer gewesen. Flavia fragte sich, was aus ihr geworden wäre, wenn sie Lenny nicht kennengelernt hätte. Er hatte sie immer geliebt, trotz allem.
»Und warum hat sie ihr nichts gesagt?«
»Keine Ahnung.« Vielleicht hatte Tess ja die geheimnistuerische Art ihrer Mutter geerbt. Oder … Flavia erschauerte und spürte, wie Lenny sie
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