Ein vortrefflicher Schurke (German Edition)
entgegengesetzte Richtung zu fliehen. Als sie um die nächste Ecke bog, lief sie unglücklicherweise einem Gentleman in die Arme. Sie versuchte noch, ihm zu entkommen, doch er packte sie und hielt sie fest.
»Beruhige dich, kleines Fräulein!«, rief er, als sie sich mit Händen und Füßen zur Wehr setzte. »Ich tue dir nichts. Nun halt schon still!«
Sie war im Begriff, ihn zu beißen, als sie erkannte, wer er war: Giles Masters, der achtzehnjährige Freund ihrer Brüder, der mit seiner Familie zur Beerdigung gekommen war. Vetter Desmond hatte die Gästeliste wegen des Skandals klein halten wollen, doch Großmutter hatte gesagt, dass die Kinder ihre Freunde gerade in dieser Zeit besonders brauchten.
Da Mr Masters nicht zur Familie gehörte, konnte Minerva ihn vielleicht dazu bringen, ihr zu helfen. »Bitte lassen Sie mich gehen!«, bat sie. »Und sagen Sie niemandem, dass ich hier draußen bin!«
»Aber alle warten auf dich, damit die Trauerfeier beginnen kann.«
Sie schämte sich für ihre Feigheit und schlug die Augen nieder. »Ich kann da nicht hineingehen. Ich habe gelesen, was in der Zeitung stand über … über … Sie wissen schon.« Darüber, dass Mama erst Papa und dann sich selbst erschossen hatte. »Ich will Mama nicht mit einem Loch in der Brust sehen und Papa ohne …« Ohne Gesicht. Schon bei dem Gedanken wurde ihr angst und bange.
»Ah.« Er hockte sich vor sie hin. »Du denkst, sie liegen in den Särgen, wie man sie gefunden hat?«
Sie nickte.
»Darüber musst du dir keine Sorgen machen«, erklärte er sanft. »Der Sarg deines Vaters ist geschlossen, und deine Mutter haben sie wieder hübsch zurechtgemacht. Du wirst das Loch in ihrer Brust nicht sehen, das schwöre ich dir. Du hast nichts zu befürchten.«
Minerva nagte an ihrer Unterlippe, weil sie nicht so recht wusste, ob sie ihm glauben konnte. Ihre großen Brüder versuchten manchmal, mit einer List dafür zu sorgen, dass sie auf sie hörte. Und Großmutter sagte immer, dass Mr Masters ein schlimmer Halunke sei. »Ich weiß nicht, Mr Masters …«
»Giles. Wir sind doch Freunde, nicht wahr?«
»I-ich denke schon.«
»Ich mache dir einen Vorschlag«, fuhr er fort. »Wenn du mit mir in die Kapelle gehst, halte ich während der Trauerfeier deine Hand. Und solltest du Angst bekommen, kannst du meine Hand so fest drücken, wie du willst.«
Minerva nahm ihren ganzen Mut zusammen und sah ihm ins Gesicht. Er hatte liebe Augen, die so blau waren wie Vergissmeinnicht. Ehrliche Augen, wie die von Großmutter.
Sie schluckte. »Und Mama und Papa werden bestimmt nicht aussehen wie … wie es in der Zeitung beschrieben wurde?«
»Ich schwöre.« Er legte mit ernster Miene die Hand aufs Herz. »Großes Ehrenwort!« Dann erhob er sich und reichte ihr die Hand. »Kommst du jetzt mit?«
Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, fügte sie sich. Und als Giles sie in die Kapelle führte, stellte sie fest, dass er nicht gelogen hatte. Papas Sarg war geschlossen. Minerva wusste zwar, was unter dem Deckel verborgen war, doch sie stellte sich einfach vor, Papa wäre genau wie immer.
Es half ihr, dass Mama hübsch zurechtgemacht war und aussah, als schliefe sie. Die größte Hilfe aber war Giles, der ihre Hand die ganze Trauerfeier über festhielt, auch als Ned, Desmonds frecher Sohn, zu kichern anfing. Jedes Mal, wenn sie Angst bekam oder traurig wurde, drückte sie Giles’ Hand, und er drückte ihre, um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war. Irgendwie machte das die ganze Sache erträglich. Er ließ ihre Hand erst los, als die Särge in die Erde gesenkt worden waren und die Trauergäste sich zerstreuten.
Das war der Tag, an dem sie sich in Giles Masters verliebte.
London
1816
An ihrem neunzehnten Geburtstag liebte Minerva ihn immer noch. Sie wusste alles über ihn. Giles hatte noch nicht geheiratet, er hatte nicht einmal ernsthaft um eine Frau geworben. Er führte ein ebenso ausschweifendes Leben wie ihre Brüder. Aber im Gegensatz zu ihnen hatte er einen Beruf – erst im vergangenen Jahr war er als Rechtsanwalt beim Obergericht zugelassen worden. Und wenn er erfolgreich sein und aufsteigen wollte, mussten die Ausschweifungen ein Ende haben. Dann brauchte er eine Ehefrau.
Warum nicht sie, Minerva? Sie war recht hübsch – das sagte jeder. Und sie war gescheit, was ein Mann wie er sicherlich zu schätzen wusste. Außerdem würde er sie wegen der Skandale in ihrer Familie nicht so von oben herab behandeln wie die voreingenommenen,
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