Ein weißes Land
Mein Herr war sichtlich angespannt, seine Frau versuchte ihn zu beruhigen.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Sie hat gute Beziehungen. Wir haben nie darüber gesprochen. Sie wusste nicht einmal, dass ich fortgehe.«
Froh darüber, nicht lügen zu müssen, machte ich ein entgeistertes Gesicht.
»Das ist gefährlich. Und es gefällt mir nicht. Du solltest mir helfen herauszufinden, wie sie das gemacht hat.«
Es war meinem Herrn ernst damit und so erzählte ich ihm rasch von Mirjams einflussreichem Vater, von meinen Erlebnissen mit der Familie. Ich war ehrlich und genoss meine Glaubwürdigkeit, während ich sprach. Der durchdringende Blick des Großmuftis lag auf mir, doch plötzlich lächelte er und rieb sich die Hände.
»So bist du also auch von ihnen getäuscht worden. Nicht einmal ein Dieb, der nachts in die Häuser klettert, bleibt davon verschont.«
»Ja«, stimmte ich hastig zu, »sie haben mich beleidigt.«
»Das war nicht schwer, mein Junge, aber, immerhin, sie haben es getan.«
Er stieß mich sachte in Richtung Ausgang, wo der Hoteldiener bereits ungeduldig wartete.
Um den Brief zu lesen, musste ich in dieser Nacht unbedingt aus dem Hotel herauskommen. Ich wollte ihn nicht auf der Schwelle vor der Tür auseinanderfalten und im trostlosen Licht des Hotelgangs entziffern, ich wollte ins Freie damit, kühle Luft atmen und in die Ferne schauen, wenn ich im Kopf Mirjams raue und zugleich sanfte Stimme hörte.
Nachdem endlich Ruhe eingekehrt war, schlich ich mich davon und irrte, den Brief an die Brust gepresst, vor dem Hotel die Straße entlang. Ich ging in Richtung Brandenburger Tor, blieb jedoch bald stehen und blickte um mich in Sorge, angehalten zu werden. Überall in diesem Viertel gab es Postengruppen, jetzt aber beunruhigten mich mehr die vereinzelten Gestalten in langen Mänteln, die nie zu mir schauten, wenn sie vorübergingen. Selbst zu nachtschlafender Zeit schien es hier keinen unbeobachteten Ort zu geben; die Fremde lag auf mir, lastend wie der Blick eines gewaltigen Auges, und der kühle Wind an Gesicht und Händen schied mich von allem ab, was ich sah. Ich kehrte um und ging ins Hotel zurück, verspürte sofort die Erleichterung innerhalb der schützenden Mauern.
Herr Schnapke saß noch mit einigen anderen Gästen im Restaurant am Goethe-Garten und nickte mir zu. Ich grüßte zurück und eilte vorbei. Unter den Kassettendecken, den Stuckgesichtern und Gemälden in den Gewölben und inmitten von riesigen Stechpalmentöpfen konnte ich nicht bleiben, ich suchte einen ungestörten Ort. Die schweren Teppiche auf den Parkettböden schluckten meine Schritte. Der Wintergarten war offen, ich blickte mich sicherheitshalber noch einmal um und huschte hinaus.
Ich sog die kühle Luft tief ein und verstaute Mirjams Brief in der Hosentasche. Dann trat ich dicht vor die Hausfassade und blickte hinauf zu den vergitterten Stehbalkonen und verdunkelten Fenstern. Die Mauern waren zum Klettern zu sauber verputzt, aber es gab ein mit schweren Schellen gesichertes Regenrohr. Langsam, jeden Zug genießend, stieg ich auf, griff nach Flanschwülsten und Schellenringen, jeder einzelne Muskel in meinen Händen und Armen schien zu ächzen, aufgestört zu schmerzen – und wurde wach. Wie Frankensteins Monster durchfloss mich lebenspendender Strom, und ich verweilte auf meinem Weg nach oben, nur um diesen Moment auszukosten. Dabei musste ich vorsichtig sein, mein schwerer Atem hätte mich, den Fenstern so nahe, leicht verraten können. Manchen Lichtspalt konnte ich sehen und darin Hotelbewohner in Bademänteln oder halbnackt, auf riesigen Betten kauernd oder blass, hineingestellt in die tiefen, mild leuchtenden Räume, in den Händen langstielige Gläser oder Zigarren. Erst jetzt, im Freien, glaubte ich etwas zu ahnen von dem Unglück, das sie mit in ihre Zimmer nahmen: Diese hier waren einsam und sie hatten Angst.
Die Dachziegel erwiesen sich als gefährlich glatt, auf allen vieren kroch ich bis zum First hinauf, fand einen hölzernen Tritt für die Kaminfeger und konnte mich endlich aufrichten. Es gab sie tatsächlich, die Berliner Luft, besonders frisch war sie und rein und immer wieder einmal brauste sie auf.
Unter dem aschgrauen Himmel herrschte Dunkelheit, so weit das Auge reichte. Ich blickte nach oben, dorthin, woher alle Bedrohung kam. In der Tiefe dieses sternlosen Gewölbes verbarg sich der Feind, er konnte uns finden, trotz der Dunkelheit, und selbst der Führer musste ihn fürchten.
Spreebogen und
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