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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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gingen die Leute ihrem Tagwerk nach, als wäre nichts geschehen. Niemand blickte zu uns her, niemand schrie auf. Aus einem der lukenartigen Fenster über uns schüttete jemand Schmutzwasser herab. Ich blickte dort hinauf und sah nur den weißglühenden Streifen des Himmels über den Dächern.
    Malik wurde vorübergehend blind. Sein Auge schwoll zu und Blut war hineingelaufen. Er stützte sich auf mich, als wir die Gasse verließen.
    »Du hast mich gerettet«, stammelte er.
    Ich schwieg, führte ihn rasch fort und kämpfte mit dem Ekel, der stoßweise in mir aufstieg.
    In der Nacht kam ich mit Abdel zur Gasse zurück. Wir hatten einen großen Leinensack, Seile und eine Axt dabei. Abdel machte sich sogleich an die Arbeit. In der Gasse war es zu dunkel, daher zerrte er den leblosen Körper auf die Straße, wo er ihn wenigstens umrisshaft sehen konnte. Er gab mir Anweisung, im Leinensack Sand herbeizuschaffen. Ich ließ mir Zeit damit, denn ich wusste, was mir bevorstand.
    Zurück bei Abdel sah ich mit an, wie er die Leiche mit einem Schlachtermesser zerteilte. In der Art eines Metzgers schnitt er die Gelenke durch, für die Oberschenkel und den Kopf nahm er das Beil. Es war eine düstere, verwerfliche Arbeit, ich hörte Abdel schnaufen und sah in der Dunkelheit seine gebleckten weißen Zähne. Das Blut kroch über den Boden, langsam ließ es einen großen tiefschwarzen Fleck entstehen, es sah aus, als öffne sich unter uns die Erde. Doch der tote Mann war bereits vollständig verschwunden, seine Körperteile hatten nichts mehr mit ihm zu tun und wir verschnürten sie mit der Sorgfalt von Lastenträgern zu einem Bündel.
    Abdel nahm den Sand und streute eine dünne Schicht über das Blut, das sich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Wir wickelten die Leichenteile in den Sack und transportierten sie zum Tigris. Trotz seiner Dicke war der Stoff blutgetränkt und troff, als wir den Toten endlich ablegen konnten. Abdel zog das Boot heran, wir hievten das Bündel hinein und verabschiedeten uns voneinander.
    Ich sah den anderen aufrecht stehend über den nächtlichen Fluss verschwinden. Ich atmete tief durch und begann mich übertrieben gründlich zu reinigen. Mit jeder Blutspur, die mir das Wasser von der Haut wusch, verwandelte ich mich ein wenig mehr zurück in Anwar.
    Nidal war der Nächste, der mich ausfragte. Er wollte alles wissen: Wie die Bande lebte, was die Männer aßen und was Malik mir erzählt hatte. Ich gab mich offen und freimütig, spielte wieder den unbedarften Jungen. Nur die Tatsache, dass ich den Beduinen umgebracht hatte, verschwieg ich. Insgeheim versuchte ich einen Hinweis darauf zu finden, dass Nidal hinter dem Anschlag auf Malik steckte. Aber nichts deutete darauf hin. Malik hatte, blind, wie er mit der dicken Binde auf seinem Auge war, wie im Fieber spekuliert, wer den Mörder geschickt haben könnte. Er wusste es nicht, und ich glaubte, das mache ihn verrückt. Darum behauptete er hartnäckig, es könne nur Nidal gewesen sein.
    Ich war anderer Meinung, doch hatte geschwiegen. Jetzt, da ich Nidal gegenübersaß, war ich mir noch sicherer, dass Malik sich irrte.
    »Was ist los? Ist er krank?«, knurrte Nidal und wartete die Antwort nicht ab. »Das kann er sich nicht leisten.«
    Ich gab ihm beflissen Auskunft über Maliks Zustand.
    »Solange er blind ist«, sagte ich, »fantasiert er herum.«
    »Er hat Angst, he?« Nidal lachte und wischte sich über das Gesicht. »Jetzt kommen die Jinnies über ihn und er kann nichts dagegen tun. – Was sagt er?«
    »Worüber?«
    Nidal patschte mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
    »Über alles.«
    Ich spielte mein Spiel weiter. Detailliert gab ich meine Gespräche mit Malik wieder, bis Nidal die Langeweile packte. Noch immer war ich nicht sicher, ob der andere etwas Bestimmtes von mir hören wollte oder wirklich nur an Maliks Gerede interessiert war. Er war zwar ungeduldig, doch nicht wie jemand, der mit der Fragerei ein Ziel verfolgt. Plötzlich fixierten mich seine kleinen Augen.
    »Warum willst du nicht in die Jugendorganisation? Ein schwarzes Hemd würde dir doch gut stehen. Und du müsstest nicht mehr mit diesem Einäugigen herumziehen.«
    Ich schwieg betreten.
    »Liegt es an meinem Ältesten? Fadil hat mir von dir erzählt. Du brauchst keine Angst vor ihm haben.«
    »Das ist es nicht«, sagte ich.
    »Was sonst?«
    »Ich will frei sein.«
    Nidal lachte lautlos auf. »Du willst frei sein, soso. – Niemand in diesem Land ist frei.«
    Er schenkte uns beiden

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