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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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es erklären zu können. Worauf es ankam, war ganz allein die Seite, auf der ich stand; Maliks Seite, frei und rücksichtslos.
    Er hatte gelitten, wie ich damals im Gefängnis sehen konnte – unmöglich, dass diese erste Begegnung ein Zufall gewesen sein sollte –, somit konnte auch ich leiden. Also hielt ich durch, blieb schweigsam und befolgte geduldig jeden Befehl. Ich trieb es so weit, dass ich mir einbildete, einen anderen spielen zu müssen, einen unbedarften Jungen, der froh war, überhaupt hier sein zu können. Dabei lauschte ich den Zügen, die den Bahnhof verließen. Anfangs zählte ich sie, dann redete ich mir ein, es sei nur ein einziger, der immer aufs Neue mit einem langgezogenen, traurigen Signalton vergeblich die Stadt zu verlassen suchte.
    Malik behielt recht, es war ein Test. Nidal kam irgendwann zu der Überzeugung, dass ich vertrauenswürdig sei. Vielleicht vergaß er sein Misstrauen auch einfach, weil ich so überzeugend den Trottel spielte. Aber genau das war es, was Malik von mir wollte. Ich war glücklich über die Aufregung, in die er geriet, als ich ihm erzählte, dass Nidal mich in die hinteren Räume mitnehmen würde. Es war ein erster Schritt. Jetzt würde ich Maliks unauffälliges Ohr sein, oder, viel mehr noch, sein heimliches zweites Auge.
    »Was ist im hinteren Raum?«, fragte Malik ungeduldig.
    Wir saßen mittags in der Altstadt auf den warmen Steinen einer Straßenbegrenzung, einträchtig wie zwei Schuljungen. Ich beschrieb den langgestreckten Raum, die Einrichtung aus je vier Sesseln, die um niedrige Teetische standen, die rot gepolsterten Türen und die mit gedämpften Stimmen plaudernden Gäste.
    »Nein, nein – worüber reden sie? Was planen sie?«
    Ich musste zugeben, dass ich Schwierigkeiten hatte, den Gesprächen zu folgen.
    »Sie sind vorsichtig«, sagte ich. »Wenn ich an den Tisch komme, schweigen sie. Nur einer redet immer sehr laut.«
    »Das ist Younis«, sagte Malik. »Er ist der gefährlichste von allen, auf ihn musst du besonders achten. Merk dir jedes Wort, das er spricht.«
    Ich versuchte mich zu erinnern. »Am Anfang geht es immer um die allgemeine Lage im Land. Sie reden darüber, was sie im Radio gehört haben oder aus der Zeitung wissen. Wie im Teehaus. Dann, wenn sie Whisky getrunken haben, fangen sie an zu diskutieren. Einer nannte diesen Younis einen Nazi. Aber das war nicht böse gemeint. Sie haben darüber gelacht.«
    »Er ist ein Nazi. Weißt du, was das ist?«
    Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich ahnte, was das Wort bedeutete.
    Malik überlegte eine Weile. »Er verehrt Hitler«, sagte er dann, »das heißt, er hasst die Juden. Das bedeutet nicht nur, dass er sie verachtet. Nein, er will sie loswerden.«
    »Er hat von seiner Organisation gesprochen. Er hat sie gelobt. Sie sind die Zukunft des Landes, sagt er, und dass sie mehr Mut haben als alle Soldaten zusammen.«
    »Ja«, brummte Malik verächtlich, »er liebt seine Schwarzhemden. Wahrscheinlich krault er ihnen vor dem Einschlafen die Ärsche.«
    Ich beschrieb den Führer der Jugendorganisation, wie ich ihn erlebt hatte, die Uniformjacke aufgeknöpft bis zum Bauch, die Tischgesellschaft unterhaltend mit weit ausgreifenden Gesten. In seinem Gesicht war keinerlei Brutalität zu sehen, wenn er von den Fähigkeiten seiner Jungen schwärmte. Mehrmals hatte er mich aufmerksam betrachtet. »Was ist mit dir?«, hatte er gefragt. »Warum spielst du hier den Diener? Du bist gesund und kräftig.« – »Lass ihn in Ruhe«, hatte Nidal ihm geantwortet und mich fortgezogen.
    »Er will dich für sich«, sagte Malik. »Wahrscheinlich glaubt er, du bist zu schade für die Schwarzhemden.« Er rieb sich das Kinn. »Das ist gut. Folge Nidal, aber sei vorsichtig, Younis darf es nicht merken. Verstehst du, bei den Schwarzhemden kann ich dich nicht gebrauchen. Du musst in diesem Raum bleiben, damit du hörst, was sie reden.«
    Ich erzählte ihm noch, dass über ein Buch von jenem Hitler gesprochen wurde, welches Younis gerade ins Arabische übersetzte, aber das interessierte Malik nicht mehr. Er winkte ab und hieß mich schweigen.
    Eine Weile saßen wir stumm nebeneinander. Vor uns pulsierte das alltägliche Leben in der Altstadt. Nichts deutete auf all die Gefahren und welthistorischen Ereignisse hin, die durch das Radio ständig in der Luft zu liegen schienen. Hier lebten Juden und Muslime einträchtig nebeneinander. Es war ein armes Viertel, jeder kannte jeden, die Familien wohnten so dicht beieinander, dass ihre

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