Ein weißes Land
voranzuschreiten, stehen blieb und sich schließlich umdrehte, um nur noch den bereits zurückgelegten Weg zu betrachten. Doch für Malik lag das Problem woanders.
»Wir müssen sehen, wo wir bleiben«, sagte er mehrmals vor sich hin. »Wenn sie können, werden sie gründlich aufräumen.«
»Warum sollten sie?«
»Sie werden die Vergangenheit begraben wollen«, raunte Malik, doch erklärte nicht, was er damit meinte.
Um diese Zeit reifte in ihm der Plan, das Lager aufzugeben und einen anderen, sichereren Platz zu suchen. Er stellte sich vor die Männer und erklärte ihnen, warum er einen Umzug für nötig hielt und wie er ihn bewerkstelligen wollte. Ich hörte kaum hin. Es war offensichtlich, dass Malik sich verfolgt fühlte und von dem Gedanken besessen war, sich vor seinen Feinden verstecken zu müssen. Unwillig wie alle anderen stimmte ich dem Vorhaben zu, suchte insgeheim aber bereits nach einem Weg, die Bande zu verlassen.
Natürlich hielt ich Nidal auf dem Laufenden. Ich beschrieb ihm die genaue Position des neuen Lagers flussabwärts, weiter außerhalb der Stadt und unterrichtete ihn über den Plan des Diebes, ein Motorboot zu stehlen.
»Ah, auch er will sich modernisieren, will Schritt halten mit der neuen Zeit«, lachte Nidal. »Dieser elende Räuber, es wird ihm nichts nützen.«
Mehrmals hatte ich Äußerungen dieser Art von ihm gehört. Immer war ich alarmiert, denn sie schienen Maliks Verdacht zu bestätigen, dass zumindest Nidal etwas mit ihm vorhatte. Ich wagte nicht, ihn direkt danach zu fragen, und so blieb mir nur der beunruhigende Gedanke, dass ich trotz der Nähe zu den Offizieren nichts von ihren Plänen wusste. Ich spielte mehrere Szenarien durch, und mich leitete dabei nur eine Frage: Konnte ich selbst zum Opfer ihrer möglichen Reinigungsaktion werden? Doch ich beruhigte mich mit der Hoffnung, dass mich wahrscheinlich gerade mein Unwissen schützen würde.
Die Wende kam ausgerechnet an dem Morgen, als ich den Großmufti erstmals leibhaftig sah. Er stand zusammen mit Nidal und anderen Offizieren in der überschaubaren Menge, die auf ein paar Worte des hohen Gastes wartete. Es hatte sich herumgesprochen, dass er Hitlers triumphalen Sieg über Frankreich zum Anlass nehmen wollte, seine Vision einer Zukunft der arabischen Völker im Bunde mit Deutschland zu skizzieren. Als sich nach etwa einer halben Stunde das Tor zu seinem Anwesen öffnete, brandete Jubel auf, der aber mit dem Auftauchen berittener Polizisten, welche die Straße von beiden Seiten abriegelten, sofort wieder verebbte. Mit einem Gefolge Bediensteter trat der Großmufti ins Morgenlicht hinaus und hob die Hände. Ich sog den Anblick des geheimnisumwitterten Mannes in mich auf: Unter dem hohen, leuchtend weißen Turban das feingezeichnete Gesicht mit dem gepflegten Bart und den listigen blauen Augen, die aufmerksam umherblickten, als suche er jemanden. Er sah die Polizisten und winkte auch ihnen zu, bevor er sich mit feinem Lächeln wieder der Menge zuwandte. An diesem Morgen wehte der Geruch des Flusses stark herüber, ich genoss das milde Sonnenlicht und die fröhliche Stimmung der Leute.
Bevor der Großmufti zu sprechen begann, zog mich Nidal zu sich.
»Du hast den Beduinen getötet«, flüsterte er.
Ich erschrak bei dem Gedanken, mich in Nidal geirrt zu haben.
»Ganz ruhig, es ist nicht wichtig. Du sollst nur wissen, dass ich es weiß.«
»Woher?«
»Er war nicht allein.«
»Ich habe niemanden sonst gesehen.«
»Nein, du warst zu sehr damit beschäftigt, ihm die Kehle durchzuschneiden. Ich hatte ihn beauftragt, aber du hast es verhindert.«
»Aber warum? Was willst du von Malik?«
»Ich will seinen Tod. Es gibt dafür Gründe, ich erkläre sie dir später einmal. Jetzt ist nur wichtig: Ich brauche deine Hilfe. Er hat keine Familie und niemanden, der ihm wirklich nahesteht. Also muss ich ihn direkt erwischen. Dafür müssen wir einen geeigneten Zeitpunkt finden. Nicht sofort, aber bald.«
Der Großmufti sprach noch, als die Polizisten ihre Pferde in die Menge trieben und die Schlagstöcke dicht über die Köpfe der Menschen streichen ließen. Geschrei erhob sich, Flüche wurden ausgestoßen und Unruhe kam auf. Noch immer lächelnd verstummte der Großmufti, blickte zu den Reitern, die sich ihm bedrohlich näherten. Er legte die Hände auf die Brust, nahm Abschied von seinen Zuhörern und zog sich hinter das Eingangstor zurück. Seine Gefolgsleute schlossen die eisernen Torflügel hinter ihm. Die ersten Schläge
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