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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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der Polizisten sausten auf die Köpfe nieder, die Menge stob auseinander und Nidal drängte mich fort.
    Nidals Offenbarung stürzte mich in einen Gewissenskonflikt. Jetzt musste ich mir doch überlegen, wohin mich mein Gang zwischen den Feuern führen würde. Ich fragte mich, ob ich Malik vor Nidals Mordplänen warnen sollte, aber mir war klar, dass ich damit eine endgültige Entscheidung treffen würde. Und das genau war es, was Nidal wollte, das Lavieren sollte nun ein Ende haben, und es brauchte dazu eines Beweises meiner Loyalität. Malik war das Opfer, das ich bringen musste, um in den engeren Zirkel aufgenommen zu werden. Und, wer konnte es wissen, möglicherweise ging das Ganze sogar von Younis aus.
    Wenige Tage nach dem Auftritt des Großmuftis lud mich Nidal nämlich zu einem Deutschkurs für ausgewählte Schwarzhemden ein.
    »Du musst das Hemd nicht tragen«, sagte er, »es ist mir sogar lieber so. Du kannst als Zivilist mitmachen.« Er griff in sein offenes Hemd und kratzte sich die Brusthaare. Lächelnd setzte er hinzu: »Mit meinem Ältesten musst du dich aber vertragen.«
    So begegnete ich Fadil wieder, der auch in dieser kleinen Gruppe von Schülern die Führerschaft beanspruchte. Bereits nach der ersten Stunde kamen mir Zweifel, ob ich an dem Kurs teilnehmen sollte. Doch dieser Unterricht in einem modernen Gebäude des Militärs war genau das, worauf ich gewartet hatte; eine Chance voranzukommen, etwas zu lernen. Mit jedem Buchstaben, den wir laut nachsprachen, mit jedem deutschen Wort, das wir allmählich zusammensetzten und mit jedem Satz, den der akkurate, militärisch strenge Lehrer uns übersetzen ließ, wurden wir alle nicht nur klüger, sondern zu Verbündeten der Zukunft. Selbst wenn der dünne, biegsame Schlagstock des Lehrers auf meine Hände niedersauste, während ich zum rotierenden Ventilator hinaufschaute und die Backenzähne aufeinanderpresste, um unter den aufmerksamen Blicken der Schwarzhemden nur ja keinen Schmerz zu zeigen, lag in allem, was ich hier lernte und erduldete, ein Versprechen.
    Die Wörter gelangen mir allmählich immer besser und obwohl ich wusste, dass ich es war, der sie formte, war da noch ein anderer in mir, der sie sprach. Ich vermute, es war der bessere Mensch, der ich hier zu werden hoffte. Es gab ihn bereits, wenn auch für alle unsichtbar. Er sagte: »Morgen«, »Abend«, »Wasser«, »Haus« und »Baum«. Und er fuhr fort mit: »Guten Tag«, »Auf Wiedersehen« und »Jawohl«. Manchmal folgte ich seinem Blick zum Fenster hinaus, um »die neue Zeit« zu sehen, über die der Lehrer sprach, wobei die winzige Metallkugel an der Spitze seines Stockes durch den Raum pfiff, wenn er gestikulierte. Der heiße Himmel über der Stadt wusste nichts von »Zukunft«, und bei seinem Anblick kämpfte ich gegen meine Trägheit an, die ich so deutlich spürte wie die Unbeweglichkeit all dessen, was außerhalb dieses Raumes lag.
    Fadil lümmelte unterdessen auf seinem Stuhl, langweilte sich und ließ den auf- und abschreitenden Lehrer dennoch nicht aus den Augen. Ich fragte mich, was er erwartete. In seinem Visier waren Menschen, nicht Worte, unbeirrbar suchte er noch mit seinen Blicken ihre Schwäche.
    Ich dachte an Malik und das neue Lager, das noch armseliger war als das vorige und in dem die Bande nun nicht besser hauste als die Hungerleider am Bahndamm. Ich starrte auf die Flächen meiner Kletterhände und sah, wie die Wunden allmählich verheilten, weil sie nur noch über Buchseiten strichen, anstatt sich ins nackte Mauerwerk zu krallen. Manchmal träumte ich mich fort, zurück in jene Nächte, in denen ich wie ein Raubvogel auf den obersten Mauerkanten gethront hatte, um mich den Wind und über mir nur noch den schwarzen, vom Sternenlicht durchstochenen Himmel. Bald schon war es wie die Erinnerung an ein anderes Leben, in dem ich frei gewesen war. Aber auch arm. Arm an allem, was man mir hier bot: Sicherheit, freie Verpflegung und ein Handgeld dafür, dass ich nichts weiter tat als lernen.
    Unter den Schülern ging sogar das Gerücht von einer Reise nach Deutschland, auf die ein paar Auserwählte, vielleicht sogar alle hier, vorbereitet wurden. Allein der Gedanke daran schien mir vermessen und doch schlich er sich in meine Träume, in denen mir der Vogel Roch erschien, mir die Krallen in die Schultern schlug und mich in einen Himmel trug, glatt und kühl wie Seide.
    So zwang ich mir ein Lächeln ab, wenn Fadil verunsichert um mich herumstrich, ließ mich nach einer Weile

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