Ein weites Feld
gedreht worden sind: in Schwarzweiß. Jetzt legt er Pausen ein. Hier hält er länger, dort kürzer, doch nicht, um zu rasten, sondern der weiten Sicht wegen, links über den Bodden nach Rügen, rechts zur offenen See hin. Wer ihm entgegenkommt, blickt sich nach ihm um. Aber andere Inselgäste, die ihm begegnen, sind gleichfalls von zeitlosem Aussehen: Manche wirken kostümiert, etwa im Stil der zwanziger Jahre, oder wie handgestrickt nach anthroposophischer Kleiderordnung. Jemand nähert sich stürmisch, ist mit wallender Löwenmähne und glutvollem Blick schon vorbei, indem er bühnenreif vor sich hin zitiert: Verse von Däubler womöglich oder Expressives von Becher vielleicht. Doch zumeist begegnet er Tagestouristen im üblichen Freizeitlook. Sächsisch eingefärbte Halbsätze. Ein Jogger keucht, überholt ihn. In Vitte, dem Dorf ohne Kirche und Mittelpunkt, bleibt Fonty vor einem bürgerlichen Klinkerhaus stehen. Der Inseldoktor, der bald nach dem Mauerbau mit Frau und falschen Papieren seinen drei Töchtern in den Westen folgte, hat ihm hier einst Tabletten verschrieben, die, außer Baldrian, Substanzen des Hopfens und der Mistel enthielten; gut für die Nerven, womöglich halfen sie, wenn er sich wieder einmal »abattu« fühlte; jedenfalls beruhigten sie.
Fonty erinnert sich oder sieht aus wie jemand, den Erinnerungen eingeholt haben: Eine der Doktorstöchter, die in Greifswald Musik studierte, übte während der Ferienzeit in der Fischerkirche von Kloster das Orgelspiel, immer wieder Buxtehude. Auf der Empore war nur ihr schmaler Rücken zu sehen und ihr inselblondes, zum Zopf hochgebundenes und seitlich in Locken fallendes Haar. So viel Hingebung an Präludien und Fugen. Sie hätte Pastor Petersens Enkelin aus »Unwiederbringlich« sein können; doch Elisabeth spielte auf dem Klavier und sang dazu: »Wer haßt, ist zu bedauern, und mehr noch fast, wer liebt …« Orgel vertrug Fonty nicht. Seine Nerven waren strikt gegen Orgel. Überhaupt Musik, weshalb auch das Piano in der Kollwitzstraße verstummen mußte … Aber die Erinnerung an die Tochter des Doktors, der ihm Baldrian verschrieben hatte, stellte die Orgel so leise, daß nur das Bild blieb: der schwere Zopf, ein langer Hals -und eine kleine Sehnsucht, deren Ticken erst nachließ, als er wieder Schritt vor Schritt setzte, nun einer anderen Devise folgend: »Liebesgeschichten läuft man am besten davon …«
Wenn er nicht nach Vitte und weiter nach Neuendorf durch die Heide wanderte, war Fonty im Hügelland, das gleich hinter Kloster anhob, unterwegs. Über sanft gebuckelte Schafsweiden aufwärts, durch Gebüsch, das sich zum Wald verdichtete, bis hin zum Leuchtturm und der jäh abbrechenden Steilküste, von der aus, bei klarer Sicht, die Kreideklinten der dänischen Insel Mon den Horizont aufbrechen. Ein Bild, das wunder was versprach: lange Zeit den Westen, dessen fernsehgerechten Wohlstand und obendrein Freiheit. Einige Söhne der Insel haben versucht, nachts und in Paddelbooten dieses Ziel zu erreichen. Nicht alle kamen an. Plötzlich stimmte der Wetterbericht nicht mehr, Sturm wühlte die See auf und sorgte dafür, daß, nach Weisung der Küstenwache, niemand davonkommen, sich keiner dem Arbeiter-und Bauern-Staat entziehen und Mons Kreideklinten, das Trugbild der Freiheit, erreichen durfte; später trieben die Leichen der Paddler an Südschwedens Küste an und wurden ordnungsgemäß überführt: Inselgeschichten. Als Fonty jedoch auf Hiddensees Steilküste stand, ahnte er nur, trotz guter Sicht, den Kreidefels, war aber gewiß, daß dort, ungefähr dort die frischvermählte Tochter auf den Brief des Vaters -postlagernd Stege – wartete und sich dabei aller Freiheiten sicher sein konnte, die der Westen, je nach Preislage, zu bieten hatte. Aufs Hügelland nie, doch halbwegs nach Vitte und dann zu den Strandbuhnen kam Emmi mit. Desgleichen zum Kaffee im nahen Grieben, wo man im Gasthof »Zum Enddorn« auch draußen unter Sonnenschirmen sitzen konnte, die neuerdings von einer Speiseeisfirma, zwecks Markterweiterung, spendiert worden waren. Zu zweit kam man nur langsam voran. Ein Paar, das sich schon alles gesagt hatte und doch noch ins Plaudern geriet, sobald Emmi, kaum saßen sie unter einem der bunten Schirme, das Stichwort gab: »Ganz schön happig die Preise hier …« Und: »Guck mal, Wuttke, frische Flundern gibt’s …« Oder auch nur: »Wie’s unsrer Martha wohl geht? So weit weg.« Doch meistens sahen wir Fonty allein unterwegs. Oder wir
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