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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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VEB Fahrradproduktion Simson-Suhl zufallen könnten –, tippte nur kurz die universitäre Situation in Jena und anderswo an – ob die Humboldt-Uni demnächst ganz und gar unter Westberliner Aufsicht gerate doch dann machten sich Theo Wuttke und Eckhard Freundlich auf den Weg, vorbei an den schofgedeckten Refugien einstiger Theatergrößen: Unter wechselnder Staatsgewalt hatte die Insel selbst denen Zuflucht geboten, die nur zeitweilig im Licht standen. Noch im Dorf sagte Fonty: »Das kleine Hexenhaus dort gehört wohl noch immer der Witwe des ermordeten Sozialdemokraten Adolf Reichwein, mit dem mein Vater, der selber ein Revisionist reinsten Wassers gewesen ist, in den dreißiger Jahren korrespondiert hat. Der eine Reformpädagoge, der andere Genossenschaftler. Zwei Bernsteinianer, die sich mit Lust auf den Erfurter Parteitag beriefen. Liegt zwar lange zurück, und doch, mein lieber Professor: Diese Geschichten enden nie!« Ab Süderende und dem Wiesenland kamen sie in die Heide. Zwei Wanderer im Gespräch. Selten, daß beide gleichzeitig schwiegen. Freundlich war ein straffer Mittfünfziger, oben schon kahl, wenn nicht blank. Neben Fonty wirkte er wie eine melancholische Zugabe, war aber immer bemüht, selbst der trübsten Aussicht witzige Glanzlichter zu setzen. Er hörte sich gerne sprechen und verstand es, sogar jene kleinteiligen Einzelheiten, die nur für die Insel von Bedeutung waren, etwa das bereits abgeblühte Heidekraut oder ein Birkenwäldchen, in Bezug zur Welt zu bringen und mit weiträumigem Vergleich aufzuwerten; als Kind der Emigration war Freundlich überall und nirgends zu Hause.
    Sein Vater hatte zeitweilig hohes Ansehen genossen, nicht nur seiner antifaschistischen Vergangenheit wegen. Nach dem Reichstagsbrand war dem kommunistischen Abgeordneten, der nur knapp der Verhaftung entging, und seiner Sekretärin, die bald seine Frau wurde, die Flucht über Prag nach Moskau geglückt, wo Eckhard Freundlich, wie er sagte, »auf Durchreise« geboren wurde; denn aufgewachsen ist er in Mittelamerika, wohin die Familie bald nach seiner Geburt weiterreisen durfte, rechtzeitig vor Beginn der Prozesse. Es dauerte, bis sie ankamen. Fast ein Jahr wartete man in Shanghai auf ein Einreisevisum in die USA. Schließlich bot Mexiko den Flüchtlingen Asyl. Dort trafen sie Emigranten, die ihnen parteilich nahestanden, wenngleich sich bald zeigen sollte, daß das politische und das mexikanische Klima den Streit der Fraktionen bis hin zu Mord und Totschlag belebte. Mittlerweile wissen wir, wie feindselig es zwischen den Emigranten und ihren Gruppierungen unterhalb der Vulkane Popocatepetl und Ixtaccihuatl zugegangen ist; doch Freundlich sprach über die Schattenseite seiner Jugendzeit immer nur andeutungsweise hinweg oder leichthin touristisch, als hätte es dort weder Trotzki und den Eispickel noch die Seghers und deren Unfall gegeben. Kein Wort über den Renegaten Regler und den parteilichen Aufpasser Janka. Allenfalls sagte er: »Können Sie sich vorstellen, Wuttke, daß meine Mutter keine Palmen und Kakteen mehr sehen konnte und selbst angesichts aztekischer Pyramiden von Heidekraut und blühenden Heckenrosen schwärmte? In Acapulco, wohin mir sozusagen in die Sommerfrische fuhren, hat sie sich nach einem Birkenwäldchen wie diesem gesehnt.« Als die Familie nach Deutschland zurückkehrte und nur Ruinen vorfand, brachte Freundlichs Vater seinen Glauben an den Kommunismus in immer noch zweifelsfreiem Zustand mit, doch schon bald setzte er mehr auf einen Ersatzglauben, der »völkerverbindender Humanismus« hieß, weshalb er zu den Gründungsmitgliedern des Kulturbunds gehörte; selbst später, nachdem ihm das Ministeramt genommen war, blieb er in diesem Bereich tätig. Als die beiden Wanderer kurz vor Neuendorf vom Sandweg auf den Plattenweg wechselten, sagte Fonty: »Ein großer Redner, Ihr Herr Vater. Hat in Berlin, im Mai siebenundvierzig, auf dem ersten Bundeskongreß kolossal mitreißend gesprochen. Habe mich damals als nur vorübergehend bemühter Junglehrer seinen humanistischen Bestrebungen angeschlossen; nur für Parteimitgliedschaft war ich nicht zu gewinnen. In diese Vortrefflichkeitsschablone paßte ich nie. Wankelmütig seit jeher, war politisch auf mich kein Verlaß. Sie wissen ja, daß ich weder ein eingeschworener Kreuzzeitungsmann noch ein freiheitsbesoffener Liberaler gewesen bin; die Vossische konnte, bei allem Respekt, genauso wenig meine Sache sein. Und wenn in Briefen an Friedlaender halbwegs

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