Ein weites Feld
dachten ihn uns zu Fuß und allein; denn niemand war Zeuge, als er vom Hügelland herab die Insel, der man den Umriß eines Seepferdchens nachsagt, bis zum Gellen hin überschaute und dann, mit Blick in Richtung Stralsund, dessen Türme wie eine hingetuschte Erscheinung am Horizont klebten, laut über das flache, vom Bodden und der See ausgesparte Motiv vieler Maler »Komm, Effi! Effi, komm!« rief und dabei mit beiden Händen einen Trichter bildete.
Als er am dritten Inseltag, wiederum auf dem Weg von Kloster nach Vitte, wie verabredet Professor Eckhard Freundlich traf, hatte er fortan auf Wanderungen jemanden zur Seite, mit dem sich altgewohnt. als sei nach ihrer letzten Begegnung -»Das war, als die Mauer noch stand« keine Zeit vergangen, über dies und das plaudern ließ: über Familiäres – »Meine Töchter liebäugeln neuerdings mit Israel, als könnte man dort besonders abwechslungsreich seine Freizeit genießen« –, dann über die allgemeine Lage – »Daß dieser Mensch, der für uns die Einheit aushandelt, unbedingt Krause heißen muß« –, nun über insularen Klatsch – ›Jetzt haben sich die Hiddenseer einen Bürgermeister von Helgoland her, sozusagen auf Pump geholt« –, sodann über das Wetter – »Schöner kann’s nicht werden« -und schließlich über ihre gemeinsame Zeit beim Kulturbund – »Erinnere mich noch an Ihren luziden und dank etlicher Fallgruben waghalsigen Vortrag, den Sie bei uns in Jena gehalten haben: ›Weshalb Effi Briest keine deutsche Madame Bovary ist.‹ Das muß kurz vorm Sängerstreit gewesen sein; eine Rechthaberei, bei der keiner gewonnen hat, nur Verluste seitdem …« Sie sprachen wie gleichgestimmt und ließen kaum Pausen zu. Jeder Satz bot dem nächsten das Stichwort. Doch so vertraut sie waren, siezten Fonty und Freundlich einander dennoch: »Ich bitte Sie, verehrter Herr Professor, auf den Sieg der Stöckerschen Hofpredigerpartei, die ja dereinst den Dreh mit dem christlichsozialen Gesums erfunden hat, vorbereitet zu sein, zumal Stöckers Antisemitismus, wie wir nun wissen, keine bloße Zeitmode gewesen ist. Hätte bereits gegen Freytags ›Soll und Haben‹ viel schärfer vom Leder ziehen müssen …« Und der Jurist Freundlich sagte, so sehr ihm Fontys Nachvollzug der Unsterblichkeit bis ins Zitat vertraut war, dennoch nie Fonty zu ihm, sondern: »Mein lieber Wuttke, Ihren Zeitsprüngen zu folgen hält zwar den Geist gelenkig, bringt aber Muskelkater ein …« Oder: »Ihre These von der Wiederkehr der Gründerjahre ist eine typisch Wuttkesche Rechnung, bei der unterm Strich die Treibels und weitere Neureiche selbst dann Gewinn einstreichen, wenn sie in Konkurs gehen.« So sagte der eine, als sie einander kurz vor Vitte über den Weg liefen: »Bin im allgemeinen gegen Gesuchtheiten, aber Ihnen hier zu begegnen, überzeugt als Findung.« Und sagte der andere: »Ihnen, bester Freund Wuttke, gelingt es, selbst mir diese penetrant autofreie Insel erträglich zu machen. Nehmen wir einen Kaffee bei uns. Die Damen werden beglückt sein, aber zugleich bedauern, daß Sie Ihre Emmi an irgendeiner Strandbuhne zurückgelassen oder womöglich verbuddelt haben. Und dann, nach einem Korn als Zielwasser, machen wir uns davon, meinetwegen durch die Heide bis nach Neuendorf runter …« Das gastliche Haus befand sich am Norderende, Puting gegenüber. Freundlichs Vater, der eine Zeitlang Minister gewesen war, hatte sich Anfang der fünfziger Jahre die Baugenehmigung erteilen und das Baumaterial liefern lassen. So entstand eine trotz Privileg eher schlichte, mittlerweile kaum noch der Prominenz anrüchige Behausung, in deren Veranda ihnen Freundlichs Frau Elisabeth, eine resolute Biologin mit kurzgeschnittenem Haar, den versprochenen Kaffee servierte; die Töchter Rosa und Clara waren am Strand. Wir wissen nicht viel über den Staatsrechtler Freundlich, nur das, was Fonty zu sagen bereit war. Er galt als Kapazität, soll als Jurist zum Reisekader gehört haben und sogar im nichtsozialistischen Ausland gefragt gewesen sein, bis von gewissen Schwierigkeiten gemunkelt wurde, denen, nach mangelnder Selbstkritik, der Parteiausschluß folgte. Die knappe Stunde Besuch bei den Freundlichs gab nicht viel her. Man teilte die Besorgnisse der Hausfrau über die Zukunft der Insel bei jetzt schon steigenden Bodenpreisen, bewegte die neuesten Inselgerüchte -wer sich wohl das Gewerkschaftsheim der Stralsunder Volkswerft unter den Nagel reißen werde und wem am Ende die Ferienhäuser der
Weitere Kostenlose Bücher