Ein weites Feld
übriggebliebener Jude. Und das ungefähr sagt man mir neuerdings ins Gesicht: Als Jude müßten Sie doch begreifen, daß man das, was gewesen ist, nicht einfach verdrängen darf, etwa Ihre langjährige Parteigenossenschaft und daß Sie sich immer noch als Marxist … Was uns im Westen bei der Bewältigung der Nazivergangenheit fehlerhaft unterlaufen ist, darf sich im Osten nicht wiederholen. Eigentlich müßten Sie mir zustimmen, lieber Kollege, wenn nicht als jüdischer Kommunist, dann als überlebender Jude, denn das sind Sie …‹
Nach diesem Ausbruch – oder soll ich Erguß sagen? – hat er mich angeschaut und nun wieder lächelnd – seinen üblichen Ton gesucht: ›Alles furchtbar richtig, nicht wahr, Fonty?‹ Er, der mich sonst als Wuttke oder mein lieber Wuttke anspricht und seine Briefe sogar mit ›Hochverehrter Herr Wuttke‹ beginnt, nannte mich, wie alle Welt mich zu Mamas und Deinem Ärger nennt. Und ich antwortete ihm prompt aus meiner verlängerten Erfahrung: ›Alles schon gehabt, mein lieber und verehrter Friedlaender! Alles, was jetzt bei uns obenauf ist, entweder heute schon oder es von morgen an erwartet, ist mir grenzenlos zuwider: dieser beschränkte, selbstsüchtige, rappschige Adel, diese verlogene und bornierte Kirchlichkeit, dieser ewige Reserveoffizier, dieser greuliche Byzantinismus …‹ Und schon lachte er wieder und erinnerte mich, zitatsicher, wie er ist, daran, daß ich bei meiner Generalschelte dazumal Bismarck und die Sozialdemokraten ausgenommen hätte, allerdings mit dem Hinweis, daß auch die nicht viel taugten. Doch Dir – und nur Dir -muß ich gestehen, wie nachhaltig mich gewisse Äußerungen über das Judentum, den Geldjuden, das jüdische an sich und die allgemeine Verjudung belasten, besonders jene Stellen, die in den Briefen an Fräulein von Rohr – sie hörte dergleichen gern unverzeihlich sind. Freundlich weiß das, schweigt aber dazu; und ich lebe damit: schamverborgen. Beim Kaffee in der Heiderose – wir waren die einzigen Gäste gelang es uns, wieder vergnügt und heillos erinnerungssüchtig die alten Kulturbundzeiten zu beschwören. Vom seligen Johannes R. Becher und vom seligen Bredel war die Rede, natürlich vom Genossen Kurella, diesem Schrecken aller Kongresse. Aber auch davon, daß gleich bei der Gründungsveranstaltung – und zwar auf Vorschlag des Schauspielers Paul Wegener – der greise, fern im polnisch besetzten Schlesien auf seine Abschiebung wartende Dramatiker Gerhart Hauptmann als Ehrenpräsident berufen wurde; und Hauptmann nahm, ein Jahr vor seinem Tod, diese Berufung an. Womit wir gesprächsweise beim Begräbnis, das heißt bei der tragikomischen Überführung der hochberühmten Leiche waren. Die zog sich tagelang vom Riesengebirge über Berlin und Stralsund bis nach Hiddensee hin. An der Seite seines Vaters ist Freundlich als Knabe ›vor Sonnenaufgang‹ dabeigewesen. Du siehst: ein ergiebiger Spaziergang, der dem Brief an meine Mete eine übergebührliche Länge auferlegt hat. Mir oder speziell meinen Nerven bekommt das insulare Klima. Schlafe traumlos. Auch Mama geht es gut oder wieder besser. Sie hat alte Bekannte getroffen, die ich lieber meiden möchte: lauter furchtbar gemütliche Kaffeesachsen. Bin mit Professor Freundlich gut und reichlich bedient. Er gibt sich tapfer, doch die Familie bangt um seine Professur. Bleibt zu hoffen, daß Dich Dein Grundmann nicht gleichermaßen nach westlicher Werteskala evaluiert. Sah von der Steilküste aus Mons Kreidefelsen in der Morgensonne und war Dir näher, als es einem Vater während der Flitterwochen seiner Tochter erlaubt sein sollte. Hätte ›Mete, komm! Komm, Mete!‹ rufen mögen …«
Wir wollen an die Begebenheiten »vor Sonnenaufgang« erinnern. Hauptmanns Begräbnis und seine frühen Stücke sind Thema eines Vortrags gewesen, den Fonty Mitte der sechziger Jahre halten durfte; der zwanzigste Todestag des Dichters bot dazu Gelegenheit. Nur unser vormaliger Archivleiter Dr. Schobeß hat zwischen den Zuhörern gesessen. Nach des Unsterblichen Urteil zählten zwar »Die Weber« und »Der Biberpelz« zum allerbesten von Hauptmanns Hand und sonst nur noch wenige Stücke, bestimmt nicht »Hanneles Himmelfahrt«, doch weil der Tod des Dreiundachtzigjährigen und die folgende Mühsal bei der Beschaffung des Zinksargs sowie der zwei Pfund Gips für die Totenmaske dem Kulturbundreisenden Theo Wuttke nahegingen, waren ihm die Aufbahrung der dichterfürstlichen Leiche in torfbrauner
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