Ein weites Feld
geht. Jedenfalls waren wir bald per Luftlinie von Hiddensee weg, landeten anfangs in Mexico City, wo Freundlich mit lebhaften Kindheitserinnerungen zu Hause ist, sahen uns dann in Kessin unterwegs, den hinterpommerschen Strand entlang, mithin in einer Gegend, die von Roswitha, der katholischsten aller Mägde, wie folgt beklagt wird: ›Und immer bloß die Dünen und draußen die See. Und das rauscht und rauscht, aber weiter ist es auch nichts‹, um danach Effis schwankende Stimmungen, ihre Ängste im Spukhaus, ihre aus Langeweile geborene Anfälligkeit und ihr offenes wie verborgenes Sehnen – weg aus der pommerschen Fremde, hin ins vertraute Ländchen Friesack -gegen Innstettens an sich vernünftige Beschwichtigungen aufzurechnen. Wir konnten uns nicht genug tun. Mal in dieser, mal in jener, sogar in des alten Briest Tonlage: ›Es ist so schwer, was man tun und lassen soll. Das ist auch ein weites Feld.‹ Du weißt ja, mein Stil kommt immer aus der Sache, die ich gerade behandle. Und da mir nach so viel standesgemäßem Unglück Deine Hochzeit zu denken gegeben hat, mit Mama darüber jedoch nicht zu reden ist, habe ich mich furchtbar grundsätzlich über die Ehe ausgelassen, nicht nur Effi betreffend, sondern auch mit Blick auf Metes späte Bindung an den Architekten Fritsch, der, wie Dein Grundmann, der Bauwirtschaft verbunden war. Die Häuser in Waren mit Seeblick hat er ja ziemlich günstig ergattern können. Und mit dem Immobilienhandel von dazumal hatte uns sogleich die Gegenwart am Wickel, ohne daß wir uns auf den in Berlin schon immer gängigen Grundstücksschacher einlassen mußten. Freundlich bangt in Jena um seine Professur. Man habe vor, sagt er, alle Universitäten nach westlichem Maß zu evaluieren, was heißen solle, zu bewerten, und was – vergleichbar den Folgen der Währungsunion – zu einer Wertschätzung auf Null führen werde. Ferner sagt er – und ich stimme ihm zu –, nach den Regeln der bevorstehenden Einheit müsse, um diese als Sieg des Kapitalismus zu rechtfertigen, nicht nur jegliches Produkt unserer Machart, sondern auch alles östliche Wissen als nichtsnutz ausgewiesen werden. Dennoch war Freundlich bei diesen Bekundungen des einseitigen Werteverfalls um keinen Scherz verlegen. Hinreißend, wie er den Tonfall westlicher Professoren parodierte, ihr herablassendes Wohlwollen, ihre kolonisierende Fürsorge, ihr Gerede über Fachkongresse, Zweitwohnungen und Drittehen; und doch hörte ich viel unausgesprochene Bitterkeit mit. Wie Du weißt (und oft mit Kritik bedacht hast), neigt er dazu, seine Trauer im närrischen Kostüm auf treten zu lassen. So hat er sich gestern, auf dem Rückweg nach Vitte, sein Taschentuch mit vier Knoten zum Schutz seiner immer wie hochpoliert glänzenden Glatze geknüpft, übrigens ein knallrotes. Und in diesem komischen Aufzug rettete er sich (und uns) in haarsträubende Inselgeschichten und immer vergnüglichen Inselklatsch. Da er bühnenreif Platt spricht, konnte er den alten Gau und seinen Nachbarn Puting naturgetreu reden lassen, aber auch den alten Inselpastor, der inmitten der Predigt rief: ›Kinnings, de Hiering kümmt!‹, worauf die Fischerkirche bald leer und alle Boote auf Fang waren. Doch dann, nachdem wir das Birkenwäldchen durchquert und von Schipperöbing über Solting bis Wichting jeden Ökelnamen durchbuchstabiert hatten und vor uns bis zu den Dünen nur Heide lag, brach es unvermittelt aus ihm heraus: ›Wegevaluiert! Jede Spur soll gelöscht, alles vergeblich, nur noch Schrott sein, wie nie gelehrt und nicht gelebt. Radierkrümel nur noch!‹ So sehr ich bemüht war, ihm seine Schwarzseherei aufzuhellen, blieb er doch recht untypisch in mauer Haltung. Plötzlich stand er wie angerufen. Er wischte sich mit dem viermal geknoteten Taschentuch den schweißblanken Schädel und sagte mehr an mir vorbei als über mich hinweg einige Sätze, die alle so furchtbar richtig sind, daß sie mir nachhallen: ›War immer mehr Marxist als Kommunist. Hat mir im Ärger noch Spaß gebracht. War aber auch ein Deutscher, wie mein alter Herr, der als Kommunist -ob in Mexiko oder an der Spree – deutsch, allerdings mehr Preuße als Deutscher gewesen ist. Doch jetzt bin ich, was ich fast vergessen hatte zu sein, ein Jude. Zuallererst und zuallerletzt: Jude! Seitdem man mich evaluieren will und meine Wissenschaft null und nichtig sein soll: ein jüdischer Wissenschaftler, dem obendrein ein kleiner Schönheitsfehler anhängt. Er lebt noch. Also bin ich ein
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