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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Krempel vor die Füße zu werfen, wie ich es getan habe, als mir der Kulturbund, wie einst die Akademie, zuwider war; aber nein, es ging ja, was den Amtsrichter betraf, um die gekränkte Ehre eines jüdischen Reserveleutnants, der seine recht manierlichen, wenn auch zu sehr aufs Ego bedachten Kriegserinnerungen hartnäckiger verteidigte als die Franzosen seinerzeit die Festung Metz; und selbstredend ging es um den Klassenstandpunkt, den ein jüdischer Rechtsprofessor unbedingt wissenschaftlich und nicht nur ideologisch begründen wollte. Noch kürzlich schrieb er mir: ›Marx’ Fehler war es, die Perlen seiner Erkenntnisse vor die Säue einer Partei zu werfen.‹ Er mag recht haben, auch wenn ich einschränkend sagen muß, daß mich Marx, selbst zur gemeinsamen Londoner Zeit, nicht die Bohne gekümmert hat; Dickens sagte mehr. Aber so streitbar Freundlich manchmal daherredet, so witzig bleibt er dabei und in Maßen sogar aufgeschlossen, sobald wir im Verlauf unserer ausgedehnten Fußreisen -gestern über Neuendorf hinaus zum kleinen Leuchtturm, wenn auch nicht bis zur Spitze des Gellen – auf Vater und Mutter Briest oder den so korrekten wie lieblosen Innstetten kommen. Er hört gut zu, weiß in der Sache Bescheid, versteht es, den schwadronierenden Major Crampas köstlich zu imitieren, nutzt aber, wenn ich. um nur ein Beispiel zu geben, das spukende Haus im pommerschen Kessin vom Spukwesen der Swinemünder Kinderjahre ableite, die Gelegenheit zum weithergeholten Vergleich. So kam er mir mit mexikanischen Kindheitserinnerungen und brachte Trotzkis vergeblich zur Festung gerüstetes Haus als Geisterschloß ins Spiel, um dann ausgiebig über die nur notdürftig versiegelten Innereien der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße zu spekulieren: ›Eine Giftküche! Mit dem dort lagernden Sud läßt sich ein Jahrzehnt lang und länger die deutsche Suppe würzen.‹ Schließlich hat er sogar unser an sich harmloses Haus der Ministerien zum rumorenden Spukhaus erklärt. Irgendeine Angst steckt in ihm, vermute ich, denn mit besonders schweißtreibender Intensität ist mein sonst auf Ironie abonnierter Professor auf Gefahrensuche, seitdem hier jemand angelandet ist, in dem ich meinen altvertrauten Kumpan erkenne. Er ist ferienhalber hier, versteht sich: Auch Tagundnachtschatten müssen mal ausspannen. Nun muß ich meiner Mete nicht erklären, wie kolossal anhänglich diese Tallhover und Hoftaller sind. Unter den Buchen, die in glatthäutiger Unschuld als Gruppe vor der Gästewohnung stehen, bekam ich zu hören: Er wolle nur kurz mal vorbeischauen und nicht stören, müsse aber daran erinnern, daß demnächst Großes bevorstehe. Selbst beste Insellage schütze nicht vor solch einem epochalen Ereignis. Daß ich nicht lache. Er sprach von der deutschen Einheit, bei der sich, ich bin sicher, die bisher begrenzten Schofelinskischaften in nunmehr erweiterten Jagdgründen abspielen werden. Der Termin steht. In zwei Wochen soll es soweit sein. Der 3. Oktober kriegt ein rotbeziffertes Kalenderblatt. Nun kenne ich aber diese sich historisch gebenden Momente zu gut und weiß, daß einem nur Geschubst- und Gedrücktwerden bevorsteht. In der Regel läuft es darauf hinaus: Der Bericht ist besser als die Sache selbst. Wird mehr was fürs Fernsehen sein. Habe aber versprochen, beim Glockenläuten ein Auge drauf zu werfen. Denn zweifelsohne ist es so, daß, während das Volk gafft – gafft und nichts sieht –, durchaus sehenswerte und manchmal aparte Kleinigkeiten abfallen: jemand kaut seine mitgebrachte Buttersemmel, ein anderer sucht den im Gedränge abgesprungenen Jackenknopf, dem dritten ist ein Sandkörnchen ins Auge gekommen, nun reibt er und reibt … Oder wie damals im Zehnpfund-Hotel in Thale am Harz, als ich vom Balkon aus eigentlich nur die Roßtrappe hinaufsehen wollte, doch zwei, drei Schritt vor mir ein englisches Geschwisterpaar auf den Balkon hinaustrat und das jüngere Mädchen gekleidet wie später Effi: Hänger, blau- und weißgestreifter Kattun, Ledergürtel und Matrosenkragen … Ja, die arme Effi! Vielleicht ist sie so gelungen, weil das Ganze träumerisch und fast wie mit einem Psychographen geschrieben wurde. Sonst bleibt ja immer die Mühe, bleiben die Sorgen jeder Etappe in Erinnerung – in diesem Fall nicht. Es ist wie von selbst gekommen. Und so später nie wieder. Hier jedenfalls findet sich weit und breit keine ›Tochter der Lüfte‹, so viele Leute einem sehenden Wanderer wie mir entgegenkommen oder wie von

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